Frankfurt-»Tatort« über Gewalt und Literatur Wir ballern euch mit unserem Frohsinn weg

»Es pisst aus meinem Gesicht«: Der neue Frankfurt-»Tatort« erzählt von einer Schriftstellerin, die Elend in Literatur verwandelt. Ein schönes doppelbödiges Spiel mit der Identitätspolitik.
»Tatort«-Szene mit Darstellerinnen Nicole Marischka und Jana McKinnon: Wem gehört eine Geschichte? Welche Stimme muss gehört werden?

»Tatort«-Szene mit Darstellerinnen Nicole Marischka und Jana McKinnon: Wem gehört eine Geschichte? Welche Stimme muss gehört werden?

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Bettina Müller / HR

So könnte er klingen, der krasse Sound der Wut der Abgehängten, nach dem sich der deutsche Literaturbetrieb sehnt. So könnte sie klingen, die authentische Stimme des jungen Prekariats, von der die Lektorinnen und Lektoren in Berlin, Köln oder Frankfurt träumen: »Kühlschrank leer, Schrank leer, normal, haha.« Oder auch: »Ich mach mein Ding, du machst dein Ding, verreck doch.«

Die Worte stammen von Luise Nathan (Jana McKinnon), die im kompetent getakteten Aggro-Modus von den Zumutungen eines Lebens in der Plattenbau-Hölle schreibt. Mutter besoffen, Schwester vernachlässigt, Herd kalt, zack-bumm-aus, so was eben. Mit Sätzen wie »Es pisst aus meinem Gesicht« wurde die 19-Jährige zum Shooting-Star des deutschen Literaturbetriebs, in der ein vermarktbarer biografischer Hintergrund oft mehr zählt als die literarische Kraft.

Das Ermittlerteam am Tatort: »Hat sie da ihren eigenen Abgang angekündigt?«

Das Ermittlerteam am Tatort: »Hat sie da ihren eigenen Abgang angekündigt?«

Foto: Bettina Müller / HR

Am Anfang dieses »Tatort« sieht man Luise auf einem Podium aus ihrem Debütroman »Luna frisst oder stirbt« lesen, in dem die Ich-Erzählerin Luna auch darüber nachdenkt, vom Plattenbaudach zu springen, um ihrem elenden Dasein ein Ende zu machen. Am nächsten Morgen wird ihre Leiche an den Betonpfeilern einer Brücke gefunden. Kommissarin Janneke (Margarita Broich) steht mit ihrem Kollegen Brix (Wolfram Koch) im Laub, schaut auf den toten Körper und rätselt: »Hat sie da ihren eigenen Abgang angekündigt?«

Eine Frage, die auf ein sehr beschränktes Verständnis von Literatur schließen lässt: Was geschrieben steht, ist passiert. Was gedacht wird, muss umgesetzt werden. Die Sache ist dann doch ein bisschen komplizierter; in der Literatur wie im Leben.

Einfach mal die Fresse halten?

So stammte das Mordopfer gar nicht aus der Plattenbau-Hölle, sondern aus einem liberalen Altbauwohnungs-Paradies, wo sie mit ihrer allein erziehenden Mutter wohnte. Die Tochter wie die Mutter, eine angesehene Kommunalpolitikerin, setzten sich für ein soziales Nachbarschafts-Café namens »#Kelle« ein, in dem Leute aus unterschiedlichen Schichten zusammengebracht werden sollen. Bei den Untersuchungen trifft das Ermittlerduo in diesem Café auf Nellie Kunze (Lena Urzendowsky), die in der Sozialbausiedlung um die Ecke wohnt und gewisse Ähnlichkeiten mit Luises Roman-Luna besitzt. Hat die Schriftstellerin das Leben der anderen für ihr Buch ausgebeutet?

Dieser »Tatort« wirft noch einmal die viel diskutierten Fragen des aktuellen identitätspolitischen Kulturdiskurses auf: Wem gehört eine Geschichte? Wer darf sie aufschreiben? Welche Stimme muss gehört werden? Und wer muss einfach mal die Fresse halten?

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Kommissar-Karussell: Alle »Tatort«-Teams im Überblick

Foto: Christine Schroeder / NDR

Das hätte leicht eine schwergängige Abhandlung über kulturelle Aneignung und klassistische Abschottung werden können; über eine Bildungsbürgertochter, die den vermeintlichen Slang der Gosse imitiert, und ihre Freundin aus der Unterschicht, der die mediale Repräsentanz verweigert wird. Doch mit ihrem doppelbödig gebauten, leichthändig inszenierten und cool fotografierten Krimidrama lassen die jungen Filmemacherinnen Katharina Bischof (Regie und Buch) und Johanna Thalmann (Buch) das identitätspolitische Positionspapier weit hinter sich zurück; auch weil »echte« und »fiktionale« Figuren hier in der Erzählung ineinander verschwimmen und einander ergänzen.

Gewehr raus zum Tanz

Nellie, Luise, Luna - in einem kunstvollen Geflecht aus Rückblenden, visualisierten Buchpassagen und forensischen Rekonstruktionen treten die drei Rollen in ein symbiotisches Verhältnis. Hier ist jede Figur mehr als ihre Herkunft, mehr als ein Produkt ihrer jeweiligen Realität. Ihre Geschichte schreiben sie sich selbst.

Der hessische Rundfunk war ja schon immer die ARD-Anstalt, in der die Grenzen des Fernsehkrimis risikobereit geweitet und neue Welten geschaffen werden. Unvergessen die »Tatort« -Folge »Im Schmerz geboren«, wo Ulrich Tukur inmitten von Tarantino- und Truffaut-Zitaten mit der Maschinenpistole für Ordnung sorgte. Unvergessen auch die Folge »Falscher Hase«, in der sich Broich und Koch in komplett aus Achtzigerjahre-Musik -Mobiliar und -Mode gebauten Welt bewegten. Auch »Luna frisst oder stirbt« spielt jetzt in großen Teilen in einem Parallelkosmos, der sich aus Zitaten und Erinnerungen, aus Sehnsüchten und Erfindungen von Nellie und Luise zusammensetzt.

Manche Szene wirkt irreal schön, etwa diese: Im Waschkeller ihres Wohnsilos tanzt Nelli mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester zum militant-fröhlichen Ragga-Pop-Song »Paper Planes«  der tamilischen Rapperin M.I.A., in dem der Refrain mit heiterem rhythmischen Pistolengeballer eingeleitet wird. Eine perfekte Choreographie, bei der die drei Tänzerinnen aus der Plattenbausiedlung die Schüsse und das Klicken des Nachladens in harmonischer Eintracht nachstellen.

Knarre raus zum Tanz, wir ballern euch mit unserem Frohsinn weg: Das ist eine schöne Rache an der Realität.

Bewertung: 9 von 10 Punkten

»Tatort: Luna frisst oder stirbt«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste

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