
"Tatort" aus München: O'zapft is!
Oktoberfest-"Tatort" Der kollektive Saufbefehl
Maß rein, Brüste raus, Arme hoch. Es sind Wimmelbilder der Enthemmung, die dieser "Tatort" über das Oktoberfest in seinen besten Momenten auffährt. Da wird das Getümmel in der Totalen von der Bierzelt-Empore aus gezeigt, und wer genau hinsieht, kann die unterschiedlichsten Ausschnitte menschlicher Degenerierung ausmachen. Hieronymus Bosch in Bierzeltlaune.
Hergestellt wurden diese Tableaus der Trunkenheit mit der sogenannten Tilt-und-Shift-Optik, wie sie am bekanntesten wohl in dem niedlichen Telekom-Spot von 2009 eingesetzt wurde. In diesem "Tatort" aber ist wenig niedlich, hier öffnet sich ein Abgrund. Der große Rausch, aufgenommen in gestochen scharfen, perfide detailgenauen Bildern.
Die Story (Buch: Stefan Holtz und Florian Iwersen) ist dafür relativ simpel: Im (fiktiven) Amperbräu-Zelt häufen sich unter den Besuchern die Totalausfälle; wie die Untersuchungen ergeben, wurde GHB, also Liquid Ecstasy, in die Bierkrüge geschüttet. Ein Besucher erstickt an seinem Erbrochenen, ein zweiter stirbt an Herzstillstand.
Alles strebt zum Rausch, vieles endet im Koma
Kommissar Leitmayr (Udo Wachtveitl) wollte den ganzen Wiesn-Extremismus eigentlich weiträumig hinter sich lassen. Doch auf dem Weg in den Urlaub hilft er in einer U-Bahnstation einem scheinbar besoffenen Italiener in Lederbüx, schiebt ihm seine rausgerutschte Börse wieder zurück in die Tasche und hinterlässt dabei seine Fingerabdrücke an der vermeintlichen Bierleiche. Nach dem Tod des Italieners, der nicht durch Alkoholvergiftung, sondern durch eine GHB-Überdosis gestorben ist, wird Leitmayr zurück nach München beordert.
Was macht das Oktoberfest mit den Menschen? Weshalb funktioniert die Ansage "O'zapft is" als eine Art kollektiver Saufbefehl? Woher kommt Volkes Wille zum Wegballern? Marvin Kren, der zuvor für den NDR zwei interessante Flüchtlings-"Tatorte" mit Wotan Wilke Möhring in Szene gesetzt hat, zeigt in der BR-Produktion zwar auch die ökonomischen Verwerfungen auf, die das "größte Volksfest der Welt" mit sich bringt; er dokumentiert zum Beispiel eindrücklich den prekären Knochenjob der Kellnerinnen, die mit 50 von ihren Arbeitgebern aussortiert werden, weil sie die Maßkrüge nicht mehr schleppen können.
Doch es geht um mehr: So setzt Kren, der am Anfang seiner Karriere mit einem zünftigen Zombie-Schocker für Furore gesorgt hat, die Bewegungen zu den Biertrögen wie ein somnabules Ritual in Szene, dem sich offenbar keiner entziehen kann, der ab der zweiten Septemberhälfte irgendwie in München ist. Alles strebt zum Rausch, vieles endet im Koma.
Dies ist ein etwas anderer "Tatort" geworden und Auftakt für eine ganze Reihe experimentierfreudiger, brisanter Sonntagskrimis. Das Tolle ist, dass die Filmemacher hier ein paar starke Szenen jenseits der üblichen Absturzklischees finden; nicht immer wird der Bier-Horror bierernst genommen.
Etwa, wenn die freundliche alte kroatische Tante von Kommissar Batic (Miroslav Nemec), die sich in Vorfreude mit ihren beiden Schwestern im Garten des Polizisten warmgetrunken hat, mit 1,9 Promille ins Krankenhaus eingeliefert wird. Oder wenn Leitmayr in seine an zwei Schwedinnen vermietete Wohnung zurückkehrt und die menschlichen Reste einer mehrtätigen Dirndl-und-Lederhosen-Orgie vorfindet.
"Die letzte Wiesn" ist kein "Tatort", der vorgibt, das große Rätsel Oktoberfest lückenlos aufzuklären. Staunend und schaudernd wird hier auf die Wirkungsmacht der Wiesn und der Maß geschaut, die stärker ist, als es Promille-Zahlen ausdrücken können.
Bewertung: 8 von 10 Punkten
"Tatort: Die letzte Wiesn", Sonntag, 20.15 Uhr, ARD