Selbstfindungsexzess im Dortmund-»Tatort« Beim Barte des Proleten!

Jörg Hartmann als Peter Faber: Der alte Parka-Wüterich
Foto: Thomas Kost / WDRAhhh, da ist er wieder: der soziopathische Zausel, der krawallgebürstete Einzelgänger, der entfesselte Schmerzensmann. Seit dem Tod der Kollegin Martina Bönisch vor knapp einem Jahr hat sich Kommissar Peter Faber offenbar nicht mehr rasiert. In den 21 gemeinsamen »Tatort«-Folgen bis zu Bönischs melodramatisch in Szene gesetzter Ermordung hatte die von Anna Schudt gespielte Ermittlerin den von Jörg Hartmann gespielten Parka-Wüterich Faber ganz langsam unter die Menschen zurückgebracht.
In Folge 22 haust er nun aber wieder in seinem Auto, taumelt nachts durch den Wald und badet morgens im Beton eines alten Wasserspeichers vor der Stadt. Kurz vor der Selbstauflösung, dem Wahnsinn nah – so haben wir Faber vor zehn Jahren kennengelernt. Jetzt geht also wieder alles von vorn los.

Faber junior mit Faber senior (Wolfgang Rüter): Derselbe Zechen-Singsang, dasselbe gemeißelte Kohlenpott-Kinn
Foto: Thomas Kost / WDREines aber ist anders, der einsame Irre hat jetzt auf einmal einen Vater: Josef »Jupp« Faber (Wolfgang Rüter) ist ein Ruhrpott-Urgestein und wohnt im Dortmunder Kreuzviertel, wo einer dem anderen einen Eintopf kocht, wenn es dem nicht gut geht. Früher war das hier jedenfalls so.
Faber senior und Faber junior sind eine Art Positiv-negativ-Bild: derselbe schlaksige Gang, dasselbe gemeißelte Kohlenpott-Kinn, derselbe Hömma-Zechen-Singsang. Nur: Wenn der alte Faber mit Nachbarn ruhrpottelt, dann tut er das in aufrechter Zärtlichkeit, während sich sein Sohn, der Entwurzelte, nur ironisch an jene Menschen herankumpelt, die er eigentlich festnehmen oder verprügeln will.
Currywurst, Sekt und Solidarität
Was bleibt vom Pott? Geschrieben wurde dieses Milieudrama von Hauptdarsteller Hartmann, der in Hagen geboren, in Herdecke aufgewachsen und also selbst ein Sohn des Reviers ist. Sarkastisch blickt er auf die Gentrifizierung, die auch im Ruhrgebiet um sich greift, und sentimental auf jene, die gegen das Verschwinden im Neuer-schöner-kälter-Revier ankämpfen.
Wobei: Das Sentimentale ist Hauptdarsteller und Autor Hartmann in diesem »Tatort« (Co-Autor: Jürgen Werner) weitaus wichtiger als das Sarkastische. Der Krimi-Plot entspinnt sich eher beiläufig; ermordet wurde ein gesichts- und geschichtsloser Immobilienhai, der das Viertel unter seine Fittiche bringen wollte. Ins emotionale Zentrum geraten schnell die alten Malocher, deren Lebenswelt vor der Abwicklung steht.
Die schönsten Szenen spielen in einem alten Friseursalon, dessen Besitzer stolz verkündet: »Mein Großvater hat hier schon die Frauen glücklich gemacht.« Reifere Damen sitzen für ihre Dauerwellen unter altertümlichen Hauben, zwischendurch wird Currywurst, Torte und Sekt gereicht wie seit 50 Jahren.
Bulle mit 300-Tage-Bart
Der Einzelgänger Peter Faber bricht nun mit seinem 300-Tage-Bart ein in diese Szenerie historischer Friseurskunst und proletarischen Gemeinschaftssinns. Er hat noch ein paar Fragen an seinen Vater, aber dem unter Demenz leidenden Zechenkumpel gehen langsam die Worte verloren. Einmal sagt der Senior: »Du musst mir helfen, bevor ich ganz verschwinde!« Aber der Sohn hat ja selbst so seine Probleme, sein Gedächtnis beisammenzuhalten. Immer wieder lauscht er im Auto auf dem Tapedeck seiner alten geliebten Joni-Mitchell-Kassette, bis die den Geist aufgibt. Bandsalat gibt es hier auf allen Ebenen, der Erinnerungsfaden ist längst gerissen.
Regisseur Richard Huber hatte unter anderem schon den Faber-»Tatort« gedreht, wo sich der angeschlagene Ermittler in die Hände eines Therapeuten begab, der mit psychoaktiven Substanzen arbeitete. In dem neuen Film geht es noch ein bisschen tiefer hinab ins Unterbewusstsein des Kommissars. Am Ende irrt Faber mit seinem Vater den Stollen einer alten Zeche entlang und starrt auf den Trümmerhaufen, der sein und des Vaters Leben ist. Wieder so ein Selbstfindungsexzess aus Dortmund.
Die um Faber/Hartmann herumgebaute Familienshow, bei der nur wenig Raum ist für die Subplots von Kolleginnen und Kollegen, hätte leicht zu einer Farce der Selbstrührung werden können. Doch immer wieder öffnet sich die Geschichte zu den universalen Themen Verlust, Liebe und Solidarität. Und für Liebe und Solidarität ist es doch nie zu spät. Beim Barte des Proleten: So wollen wir leben!
Bewertung: 9 von 10 Punkten
»Tatort: Du bleibst hier«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste

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