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"Tatort" aus Frankfurt: Willkommen im Achtzigerjahre-Museum

Foto: Bettina Müller/ HR

Retro-"Tatort" mit rigorosem Soundtrack Gebt uns endlich unsere Achtziger zurück!

Gangster im Billy-Idol-Look, Träume von Nackenspoilern: Der Frankfurter "Tatort" spielt virtuos mit Retro-Klischees - und führt dabei direkt in unsere Gegenwart.

Das muss man sich erst mal trauen: einen deutschen Gesellschaftskrimi zu drehen, dessen Soundtrack vollgestellt ist mit Achtzigerjahre-Hits. Mit Jennifer Rush, Don Henley und Johnny Logan. Mit Dauerwellen-Powerballaden, Nackenspoiler-Synthie-Rock'n'Roll und Schulterklappen-Pop-Pathos. Es fühlt sich an, als würde in diesem "Tatort" aus Frankfurt die ganze Zeit im Hintergrund ein Chor skandieren: Gebt uns endlich unsere Achtziger zurück!

Es war ja auch eine geile Zeit. Jedenfalls für Biggi (Katharina Marie Schubert) und Hajo (Peter Trabner), zwei in die Jahre gekommene Mittelstandskinder, die sich zu Jennifer Rushs "Power of Love" einst das Jawort gaben, er mit grellem Panzerschrank-Sakko, sie mit ondulierter Matte. Ein Hochzeitsvideo zeugt davon. Doch nun droht der Liebe die Kraft auszugehen und dem Leben die Fasson. Der Familienbetrieb steht vor der Pleite. Früher baute man Thermen für Deutschland, heute macht man in Solaranlagen für den globalisierten Markt, schwieriges Geschäft.

Die rettende Idee: Das Pärchen will einen Überfall auf das eigene Unternehmen fingieren und so tun, als würden die für die Fotovoltaik wichtigen seltenen Erden geklaut werden, um sich danach die Versicherungssumme auszahlen zu lassen. Damit die Täuschung authentisch rüberkommt, soll Biggi ihrem Hajo ins Bein schießen. Am Anfang sehen wir, wie die beiden so lange im Büro über den perfekten Einschusswinkel diskutieren, bis sie vom Security-Mann überrascht werden - dem Biggi dann eine Kugel direkt zwischen die Augen ballert.

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"Tatort" aus Frankfurt: Willkommen im Achtzigerjahre-Museum

Foto: Bettina Müller/ HR

Für Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) ein Präzisionsschuss, der auf einen fernen Täter aus dem organisierten Verbrechen verweist. Seltene Erden, weiß inzwischen jeder, sind ja eine heiße Sache. Im nahen Umfeld sehen die beiden Ermittler jedenfalls keine Person, die über genug kriminelle Energie verfügt für so ein scheinbar kaltblütig ausgeführtes Kapitalverbrechen.

Die gefährdeten Zonen des Mittelstands

Aber das ist ja gerade das Tolle an diesem "Tatort" (Buch: Lars Hubrich) aus den verzweifelten Zonen des deutschen Mittelstands: dass wir den Achtzigerjahre-Überlebenden abnehmen, dass sie zu allem bereit sind, um ihre Achtzigerjahre-Welt in die Gegenwart zu retten. Regisseurin Emily Atef, bekannt vor allem für ihre Romy-Schneider-Spurensuche "3 Tage in Quiberon", erzählt mit dem richtigen Gespür für Komik und Tragik, Klugscheißerinnenironie vermeidet sie.

So fügt sich "Falscher Hase" bestens in die Linie der Frankfurter "Tatorte" des Hessischen Rundfunks, in denen oft aktuelle Lebenswelten und historische Genrespielarten schlüssig kombiniert werden: etwa die undurchschaubare Welt des Micro-Tradings mit dem Antikapitalismushorror der Siebziger oder die Vernichtungskriege des Investmentbankings mit dem Psychopathenkino der Neunziger.

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Foto: Hardy Spitz / MDR

Auch in der Folge "Falscher Hase" sind die Retro-Elemente mehr als lustige Gimmicks, sie stehen für die Sehnsucht nach vergangener Größe. Dekor und Darsteller gehen hier wunderbar ineinander auf: Die von Judith Engel gespielte Opferwitwe etwa empfängt in einem brachial beigen Wohnzimmer, das wie ein Achtziger-Museum eingerichtet ist. Ein von Godehard Giese verkörperter verdächtiger Lagerist sitzt in seinem mit Computer-Antiquitäten zugestellten Singlewohnung vor einem Flugsimulator, an dem er die Route New York-Frankfurt in Originallänge fliegt.

Und Friedrich Mücke schließlich hält Monologe als Möchtegern-Gangster im blondierten Billy-Idol-Look, während ihn die Chefin zum Sexspielzeug degradiert und - "Flesh for Fantasy"! - entwürdigend an seinen Hoden rumfingert. Full frontal nudity bei Männern, das ist ja auch etwas, was sich das deutsche Fernsehen lange nicht getraut hat.

In vielerlei Hinsicht führt dieser Retro-Krimi direkt in unsere Gegenwart. Dort träumt man noch von den geilen Achtzigern und rüstet eher verzagt für die technologischen Notwendigkeiten der Zukunft auf, an die man eigentlich sowieso nicht recht glaubt. Dass die tragikomische Tricksergeschichte aus dem Sonnenenergiesektor überwiegend in herbstlichen Nebel-Panoramen gefilmt wurde, ist eine weitere von vielen starken Pointen in diesem "Tatort".

Bewertung: 9 von 10

"Tatort: Falscher Hase", Sonntag, 20.15 Uhr, ARD

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