
Tukur-"Tatort": Guter oder schlechter Western?
"Tatort"-Western mit Tukur Ulrich Unchained
An einem verlassenen Bahnhof im Hessischen werden drei Gangster abgeknallt. Aber wo ist der Schütze? Auf dem Band der Überwachungskamera, auf dem die Ermittler später sehen, wie die drei unter dem Kugeleinschlag zucken und in den Staub sinken, ist kein Täter zu sehen. "Wie ein billiger Western", sagt einer der Polizisten. "Oder ein guter", sagt Kommissar Murot (Ulrich Tukur).
Die Gangster, die am Bahnhof filmreif ins Gras beißen, wollten einen anderen Gangster in Empfang nehmen: Richard Harloff (Ulrich Matthes), einen einst nach Südamerika geflohenen Ex-Polizisten, der jetzt in Kaffee und Koks macht. Auf dem Überwachungsfilm schaut der elegant gekleidete Heimkehrer so höflich wie unaufgeregt in die Kamera, während sein Empfangskomitee vor ihm zu Boden geht.
Bald steht Harloff, immer noch höflich und unaufgeregt aus dem italienischen Anzug lächelnd, vor Felix Murot. Man trinkt 500-Euro-Espresso und 500-Euro-Wein. Früher war das anders. Die beiden waren in den ersten Jahren ihrer Polizistenausbildung Freunde, teilten nicht nur Freud und Leid des Azubi-Lebens, sondern auch die Liebe zu einer Frau. In rötlich eingefärbten Rückblenden sehen wir, wie die drei zusammen leben und einander lieben, als wäre das die normalste Sache der Welt.
Morddrohungen nicht ausgeschlossen
Das Shoot-out am Anfang dieses "Tatort" ist an Fred Zinnemanns Westernklassiker "High Noon" angelehnt, die Ménage-à-trois ist eine Verbeugung vor François Truffauts Liebesdrama "Jules et Jim", und verbunden werden die unterschiedlichen Erzählelemente des Rot in Rot daherkommenden Gewalt-und-Beziehungskrimis durch grafische Einsprengsel und Spielereien mit eingefrorenen Bildern in der Manier von Quentin Tarantino. Am Ende kann der aufmerksame Zuschauer 47 Tote zählen und ungefähr doppelt so viele Film-, Theater und Bildende-Kunst-Verweise aus der Handlung herausklauben.
Eigentlich hatten wir ja mit solcher Art hypertrophen und hyperventilierenden Meta-Filmen abgeschlossen, seit wir Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre mit den leerlaufenden Zitatmassakern der Kino-Postmoderne behelligt wurden. Mal ehrlich: Wer erinnert sich denn noch gerne an "True Romance"?
Aber die Verantwortlichen des Hessischen Rundfunks wagen sich trotzdem - nicht zum ersten Mal - auf dieses gefährliche Terrain vor. Und gewinnen.
Denn in diesem "Tatort" gelingt es noch einmal, in der forciert künstlichen Hülle einen wahren emotionalen Kern zu platzieren. Auch deshalb, weil das eingespielte Duo Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Buch), das auch schon die mit dem Grimme-Preis gekrönte Folge "Weil sie böse sind" inszeniert hat, ihre Zitate nicht als unverbindliches, ironisches Pastiche anordnen, sondern die jeweils im Zitat angerissenen Geschichten ernst nehmen und auf kluge Weise weiterführen.
Was würden Jules und Jim heute machen?
So fragt man sich zum Beispiel während dieses "Tatorts" unweigerlich, was eigentlich passiert wäre, wenn Truffauts "Jules und Jim" nicht damit geendet hätte, dass Jim von der geliebten Catherine mit in den Tod gerissen worden wäre.
Ob Jules und Jim dann auch beim teuren Weißwein zusammensäßen, um über die alten Zeiten zu reden, so wie es im "Tatort" Felix und Richard tun? Hartloff musste wegen einer Drogengeschichte den Dienst quittieren und wanderte mit der Geliebten nach Südamerika aus. Die Frau gebar einen Sohn, dann starb sie. Harloff wurde zum international gesuchten Supergangster, der fern von Europa einen monströsen Plan entwickelte, wie er sich an der Welt rächen könnte.
"Vielleicht hat mich nur der Schmerz so reich und mächtig gemacht", sagt er seinem alten Weggefährten Murot.
An diesem Punkt zeigt sich die starke innere Logik des Zitat-Krimis: Weil die Figuren sich auch immer selbst darstellen, wirkt es schlüssig, dass sie aus anderen Geschichten zitieren. Harloff ist gekommen, weil er seinen letzten großen Coup wie ein Kunstwerk zu inszenieren versucht. Mit einer 40-köpfigen Truppe Gangster, die in ihrer Freizeit Shakespeares "Kaufmann von Venedig" proben, will er ein Casino stürmen. Bühne frei für ein brillantes ballistisches Ballett.
Hauptdarsteller Tukur, der hier als Murot am Ende mit der Maschinenpistole in die Menge hält, verriet im Interview, dass er selbst am Anfang skeptisch war, ob diese überhöhte Schnellfeuerwaffen-Theater aufgehen würde. Wir finden: ja! Und folgen der Zitier- und Schießwut der Verantwortlichen in jeder Sekunde. Gut möglich, dass der Großteil der Zuschauer das nicht tut. Gut möglich, dass nach diesem Gewaltakt von Kunstkrimi wieder mal Morddrohungen beim Hessischen Rundfunk eingehen.
"Tatort: Im Schmerz geboren", Sonntag, 20.15 Uhr, ARD