Odenthal-»Tatort« über Schulgewalt »Scheiß-Inklusion!«

Ein Neunjähriger terrorisierte Eltern, Lehrer und Mitschüler. Nun ist er tot. Odenthal und Stern suchen angesichts der Katastrophe beherzt nach Antworten. »Systemsprenger« in der Süßstoffvariante.
Odenthal (Ulrike Folkerts, l.) und Stern (Lisa Bitter) am Tatort: Dramatisch naiv

Odenthal (Ulrike Folkerts, l.) und Stern (Lisa Bitter) am Tatort: Dramatisch naiv

Foto: Christian Koch / SWR

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Dies ist ein »Tatort« über Wut, diffuse, ziellose, unermessliche Wut. Dies ist aber auch ein »Tatort« aus Ludwigshafen, wo man in der Regel auf unhandliche Phänomene handliche Antworten findet. Deshalb ist die Sache mit der Wut irgendwie gar nicht so schwierig, wie sie am Anfang erscheint. Die Lösung: einfach mal beherzt in einen Plastikbeutel brüllen.

Das jedenfalls schlägt Kommissarin Odenthal (Ulrike Folkerts) ihrer Kollegin Stern (Lisa Bitter) vor, nachdem die wegen ihres Ex-Mannes in Rage geraten ist. Als Stern so richtig auszuflippen beginnt, holt Odenthal einen Klamottenbeutel aus dem Kofferraum ihres Autos, in den die andere dann ihren Frust reinschreit. Danach geht es gelöst und gut gelaunt mit den Ermittlungen weiter. Im Kontext zum Gewaltthema dieses »Tatorts« mutet das schon fast wie Gewaltverniedlichung an.

Odenthal mit Schüler Pit (Finn Lehmann): Einfach mal beherzt in einen Plastikbeutel brüllen

Odenthal mit Schüler Pit (Finn Lehmann): Einfach mal beherzt in einen Plastikbeutel brüllen

Foto: Christian Koch / SWR

Dabei trumpft der Krimi mit einem starken Anfang auf, weil da für einen kurzen Moment konsequent die Perspektive des Gewalttäters eingenommen wird: Ein Neunjähriger marschiert mit stierem Blick durch seine Schule, die Kamera folgt ihm auf Schulterhöhe. Um ihn herum herrscht blankes Entsetzen und ängstliches Raunen: »Sie haben Marlon reingelassen!« Eigentlich sollte der Junge wegen seiner Zerstörungswut zu Hause bleiben, nun ist er offenbar zurückgekommen, um es den anderen richtig zu zeigen.

Auf der Tonspur hört man einen metallischen Sound, der wie ein Tinnitus klingt. Hier wird gleich die Situation eskalieren, hier wird es gleich zu einem Gewaltausbruch kommen.

Yoga, Klangschale, autogenes Training

Wenig später liegt Marlon tot vor einer Treppe, von der ihn jemand heruntergestoßen haben muss. In die Bestürzung und Trauer von Lehrerkollegium und Elternschaft scheint sich Erschöpfung und Erleichterung zu mischen. Bis auf den Sozialarbeiter an der Schule (starker Auftritt: Ludwig Trepte), der ein enges Verhältnis zu ihm hatte, herrschte die blanke Angst vor dem unberechenbaren Jungen.

Selbst Marlons eigene Eltern, Besitzer eines kleinen Buchladens, hatten vor ihm schon lange kapituliert und machen sich seitdem gegenseitig Vorwürfe. Dabei hatten sie alles probiert, was der Besänftigung hätte dienen können: Yoga, Klangschale, autogenes Training, das ganze Programm. Marlon blieb die tickende Bombe, die niemand zu entschärfen imstande war.

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Foto: Christine Schroeder / NDR

Dieser »Tatort« erinnert in vielerlei Hinsicht an Nora Fingscheidts Indie-Drama »Systemsprenger«, das von einem ebenfalls neunjährigen Kind erzählt, bei dem alle Anti-Aggressionsmaßnahmen scheitern und das deshalb von einer Betreuungseinrichtung zur nächsten weitergereicht wird, ohne dass eine Lösung in Sicht ist. »Systemsprenger« – der Titel bezieht sich auf einen festen Begriff in der Intensivpädagogik – muss man aushalten können: Der Film zeigt Probleme, ohne Antworten vorzugaukeln – und bleibt doch ganz nah bei seiner Protagonistin.

Die Schöpferinnen von »Marlon« gehen den entgegengesetzten Weg: Sie suchen nach Lösungen, entfernen sich dabei aber immer weiter von ihrer Titelfigur. Wieder und wieder kauen die Ermittlerinnen das komplexe Thema Aggression und Autoaggression anhand ihrer eigenen Erfahrungen durch; immer wieder nehmen sie das System Schule ins Visier. »Scheiß-Inklusion!«, motzt ein Vater, der seine Tochter durch den unkontrollierbar erscheinenden Marlon bedroht sah. Die Schule war offenbar gar nicht auf das Inklusionsmodell eingestellt, das dort propagiert wurde. Eine Sozialarbeiter- und eine halbe Psychologinnenstelle reichten für das angestrebte Integrationsideal wohl kaum aus.

»Worte verletzen auch«

Regisseurin Isabel Braak hatte letztes Jahr schon mit einem MDR-»Tatort« ein anderes System am Rand des Kollaps gezeigt: In »Rettung so nah« zeigte sie in einem druckvollen Szenario den Notstand, der bei Dresdner Rettungsmedizinern herrschte und die sozialen Entgleisungen, die daraus folgten. Ihr neuer Fall (Buch: Karlotta Ehrenberg) kommt nun nach dem imposanten Anfang nicht so recht in die Gänge, weil die Katastrophe immer wieder im optimistischen Dauergeplapper der Kommissarinnen eingedämmt wird.

Einmal regt sich Odenthal über den Vater eines Mädchens auf, der Marlon aus der Schule drängen wollte. Der anschließende Dialog mit der Kollegin bringt das Dilemma dieses rührend bemühten Gewaltreports auf den Punkt.

Odenthal: »Der hat doch echt 'n Schaden, der Typ.«

Stern: »Na ja, immerhin hat Marlon seiner Tochter den Arm gebrochen.«

Odenthal: »Madita ist auch kein Engel.«

Stern: »Ich finde, das kann man nicht vergleichen.«

Odenthal: »Wieso? Worte verletzen auch.«

Nichts gegen eine konstruktive Lebenshaltung, aber angesichts einer sprachlos machenden Gewalttat wirkt das wohlmeinende verbale Herumdoktern von Odenthal und Stern dramatisch naiv: »Systemsprenger« in der Süßstoffvariante.

Bewertung: 4 von 10 Punkten

»Tatort: Marlon«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste

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