Wieso stehen Frauen so auf True Crime?

Dieser Beitrag wurde am 18.04.2019 auf bento.de veröffentlicht.

Netflix-Dokus über reale Serienmörder und Entführungsopfer, Podcasts über Kriminalfälle und ganze Zeitschriften, die sich nur der Nacherzählung von Verbrechen widmen: Das True Crime-Genre ist, spätestens seit Truman Capote es mit seinem Buch "Kaltblütig" zur Kunstform erhob, ein zuverlässiger Publikumsmagnet.

Warum das Genre so erfolgreich ist, haben wir hier erklärt:

Wieso fasziniert True-Crime?

Doch es scheint nicht alle Personengruppen gleichermaßen anzuziehen. Zahlen belegen: True Crime-Formate werden vor allem von Frauen konsumiert

"Stern Crime", eine der auflagenstärksten True-Crime-Zeitschriften in Deutschland, wird laut Angaben des Verlags Gruner + Jahr zu 81 Prozent von Frauen gelesen (Süddeutsche Zeitung ). Eine Auswertung von Nutzungsdaten englischsprachiger True-Crime Podcasts ergab, dass diese von deutlich mehr Frauen als Männern gehört werden. Bei "My Favorite Murder" ist beispielsweise 80 Prozent der Hörerschaft weiblich – obwohl Männer durchschnittlich sogar etwas häufiger Podcasts hören (Brandwatch ).

Und auch in meinem Umfeld stelle ich fest: Ich kenne einige Frauen, die leidenschaftlich gern True Crime-Zeitschriften lesen oder Podcasts hören. Aber keinen einzigen Mann.

Warum interessieren sich Frauen so besonders für reale Verbrechen? 

Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. 

Bisher gibt es fast keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Thema (und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spekulieren nicht so gern über etwas, zu dem es keine Datenbasis gibt). Doch wer nachforscht, findet trotzdem ein paar Anhaltspunkte, die Aufschluss über dieses Phänomen geben könnten.

So gibt es eine einfache statistische Tatsache: Frauen haben mehr Angst vor Verbrechen. 

Eine Umfrage des Bundeskriminalamts und des Max-Planck-Instituts aus 2017 zeigt, dass Frauen in Deutschland sich deutlich unsicherer fühlen als Männer, und dass sie mehr Angst haben, Opfer von Verbrechen zu werden (BKA ). Beispielsweise fürchteten sich 22 Prozent der weiblichen Befragten vor einer Körperverletzung, während das nur bei 13 Prozent der Männer der Fall ist. Ein möglicher Grund für das gesteigerte Interesse an True Crime ist, dass Frauen sich ohnehin gedanklich mehr mit Verbrechen beschäftigen – und solche Formate deshalb eher ihr Interesse wecken.

Einen tieferen Einblick gibt eine der wenigen empirischen Studien zu dem Thema. 

Zwei Forscher aus den USA beschäftigten sich im Jahr 2010 mit der Frage, warum True Crime-Bücher vor allem von Frauen gelesen werden (Social Psychological and Personality Science ). Mit einer Reihe von Experimenten wollten die beiden herausfinden, was genau die Leserinnen an "Geschichten von Vergewaltigung, Mord und Serienkillern" interessiert. In einem A/B-Test manipulierten sie die Klappentexte von Büchern – um zu schauen, welche Versionen mehr Zuspruch bekommen.

Das Ergebnis: Frauen entschieden sich eher für Bücher, in denen Frauen das Opfer eines Verbrechens wurden. Sie fanden Bücher interessanter, in denen die psychologischen Hintergründe des Täters beleuchtet werden. Außerdem zogen sie Bücher vor, in denen sich Opfer erfolgreich gegen Angreifer wehrten.

Daraus folgerten die Forscher, dass es Frauen bei True Crime-Büchern vor allem um einen praktischen Nutzen für ihr eigenes Leben geht: Ihrer Interpretation nach wollen Frauen aus diesen Texten lernen, potenzielle Straftäter im Alltag zu erkennen, und konkrete Verteidigungsstrategien abschauen.

True Crime als Selbstverteidigungs-Kurs? Diese Erklärung greift mir zu kurz.

Im Realitäts-Check zeigt sich ein anderes Bild: Wenn ich die True Crime-Fans unter meinen Freundinnen frage, klingen ihre Antworten anders: Eine sagt, sie schaue gern in die Abgründe der Gesellschaft und des Einzelnen. Eine andere fasziniert der Gedanke, dass in jedem von uns etwas Böses, vielleicht sogar ein Mörder stecken könne. Doch ist diese Faszination typisch weiblich?

Mit diesen Gedanken im Kopf rufe ich Lydia Benecke  an. Benecke ist Kriminalpsychologin, sie arbeitet mit Sexual- und Gewaltstraftätern. 

Sie schreibt selbst Bücher über reale Kriminalfälle und hält darüber Vorträge. Bei diesen Vorträgen seien Frauen im Publikum "definitiv die Mehrzahl", sagt sie.

Generell erklärt sie den Reiz von True Crime mit einer Mischung aus Emotion und Neugier. Verbrechen seien emotional sehr aufgeladen – und Emotionen erzeugten nun mal Aufmerksamkeit. "Berichte von echten Verbrechen verursachen Gruseln, Entsetzen, Mitgefühl – da guck ich natürlich hin", sagt sie. Außerdem hinterließen sie Antwortbedarf: "Die Taten sind so weit weg vom eigenen Erleben, dass ich verstehen möchte: Was ist der Täter für ein Mensch? Wie kann ich mir erklären, was er getan hat?"

Bei der Erklärung, warum das besonders Frauen anspricht, ist sie vorsichtig – eben weil gesicherte Studienergebnisse fehlen.

Allerdings gebe es Studien, die zeigen, dass Frauen sich tendenziell eher für Menschliches, und Männer eher für Sachliches interessieren. "Das könnte auch dazu führen, dass sie sich verstärkt True Crime zuwenden." Es gibt außerdem Forschungsergebnisse, die Frauen höhere Empathie bestätigen, also die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen (Translational Psychiatry ). Das wiederum könnte damit zusammenhängen, dass sie sich eher menschlichen Themen hinwenden. Diese triggerten eher die Empathie, so Benecke. "Das sind allerdings alles nur Hypothesen – und Spekulationen schwierig", betont sie. "Es bedarf hier deutlich mehr Forschung."

Außerdem könne man bei solchen Männer-Frauen-Unterschieden nie sagen, wie viel davon wirklich biologisch bedingt, und wie viel sozial beziehungsweise Lerneffekt-bedingt ist. "Frauen werden vielleicht belohnt, wenn sie sich menschlichen Themen zuwenden, während Männer in ihrem Interesse für Sachthemen bestärkt werden."

Kürzlich ist ein neues True Crime-Format auf den Markt gekommen, "Closer Crime", ein Ableger der Promizeitschrift, über prominente Verbrechen, speziell für Frauen (Bauer ).

Ist True Crime am Ende nichts anderes als ein Klatschmagazin, in dem statt Promi-Schwangerschaften Mordfälle ausgeweidet werden?

Meine True Crime-Freundinnen widersprechen mir: Da gehe es um viel mehr, sagen sie. "True Crime ist auch politisch", erklärt mir eine. Thematisiert werde schließlich nie nur die Tat an sich, sondern auch die gesellschaftlichen Umstände

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