Fotostrecke

ZDF-Drama "Vater Mutter Mörder": Kantig, ruppig, intensiv

Foto: ZDF

ZDF-Drama "Vater Mutter Mörder" Drei Menschen tot, alle Fragen offen

Warum hat er das bloß getan? Das ZDF-Drama "Vater Mutter Mörder" schildert, wie ein Junge aus intaktem Haus eine unfassbare Tat begeht. Ein großartiger Fernsehfilm, auch dank Heino Ferch in der Rolle des Vaters - so intensiv war der Schauspieler noch nie zu sehen.
Von Nikolaus von Festenberg

Im Uralt-Google namens Bibel steht ein verstörender Krimi, den alle kennen, den aber niemand recht begreift, weil er von den Grenzen des Begreifens handelt. Kain, der erste Sohn des ersten Menschen Adam, erschlägt seinen Bruder Abel, weil seine eigenen Opfer von Gott nicht angenommen werden. Was folgt, ist aufreizend krimiuntypisch: Keine Tatortbegehung, keine Ermittlungen im familiären Umfeld, nicht mal psychologische Gutachten, nur eine symbolische Geste: Gott macht auf Kains Stirn ein Zeichen, das berühmte Kainszeichen. Es bedeutet: Dieser Mörder gehört Gott, kein Mensch soll ihn richten, kein Mensch kann und darf seine Tat erklären. Sie bleibt ein Geheimnis.

Diesem für unser erklärungssüchtiges Fernsehen ungewöhnlichen Muster folgt Niki Steins ZDF-Tragödie "Vater Mutter Mörder" - und erreicht eine beunruhigende Intensität. Kein Bild liefert das Stück vom Tathergang, kein befriedigendes Erklärungsmuster bietet es an, es kommt über das Erschrecken angesichts des Unbegreifbaren nicht hinaus, es lernt gezwungenermaßen und sichtlich voller Widerstand das Kainszeichen zu akzeptieren, das an dem 16-jährigen Schüler Lukas "Jimi" Wesnik (Merlin Rose) klebt.

Der zuvor ganz normal erscheinende Junge aus intaktem Hause in einem Dorf vor den Toren Berlins hat in der Nachbarschaft drei Menschen erschossen. Er war wohl mit einem Freund losgezogen, um den autoritären Eltern seiner Freundin Katja (Liv Lisa Fries) eine Lektion zu erteilen, dann aber muss es über ihn gekommen sein. Erst legte er mit dem Revolver seines Vaters die Eltern um, dann erschoss er seinen Freund. Aus Eifersucht? Gott weiß, wie es wirklich war.

Wir Zuschauer gleiten ahnungslos wie die Eltern (Silke Bodenbender, Heino Ferch) in diesen Film. Die beiden, der welterfahrene Fotoreporter Tom und die Therapeutin Esther, kommen von einer Party nach Hause. Am Ortseingang zu ihrem Dorf, wo das Paar ein großes Gelände besitzt und Pferde hält, stoppt die Polizei den Wagen der Wesniks. Ein dreifacher Mord ist geschehen. Tom steigt aus. Er will seinem Beruf nachgehen, Fotos für die Zeitung machen. Dann offenbart sich das Grauen. Drei Särge. Der Mörder: Toms Sohn Lukas.

Erklärungsnot zur Tugend gemacht

Der Film ist bei seinem Thema: Wie sich der Schrecken über die Tat langsam im Bewußtsein der Eltern ausbreitet, wie sich vor ihnen ein schwarzes Loch auftut, wie sie mit ihren Schuldgefühlen umgehen, wie sie ihre Beziehung in Frage stellen, wie sie am Ende trotz allem versuchen, dem verlorenen Kind Eltern zu sein. Die Produzentin Lisa Blumenberg regte Autor Stein aufgrund eines Zeitungsberichts zu diesem Thema an. Und Stein machte sich an die Arbeit. "Drei Jahre später und einen Film weiter ist man bei der Frage, nämlich 'Warum?', so klug oder so ratlos wie vorher. Es gibt nur Befunde, aber keine abschließende Diagnose", zieht Stein Bilanz.

Diese Erklärungsnot zur Tugend gemacht zu haben, ist das Verdienst von "Vater Mutter Mörder". Einem unsicher herumtastenden Fernsehen kann man da zusehen, keinem allwissenden. Der auktoriale Erzähler, der altmodische Souverän in der Romanliteratur - hier im kunstbewussten Fernsehen ist er abgemeldet. Das Ensemble der Schauspieler darf die Verzweiflung von Suchenden ausspielen, die nicht das finden, was sie suchen. Keine Wunder geschehen. Nichts offenbart sich, die Akteure werden mit ihren verzweifelten Projektionen allein gelassen, bis - zumindest bei Vater, Mutter und Mörder - ein Gefühl nicht der Verzeihung, aber der familiären Achtung entsteht.

Besonders spannend ist es, Ferch in der Rolle des Vaters bei dieser inneren Reise zu folgen. Kantig und ruppig begegnet er zunächst den Ermittlern, dem Hauptkommissar (Thomas Schendel) und der Staatsanwältin (Antje Schmidt). Dass er die Tatwaffe ohne Waffenschein bei sich zu Hause verwahrte und der Sohn sie so finden konnte, ist ihm gleichgültig. Ihn interessiert viel mehr, ob der Tathergang vielleicht ein ganz anderer gewesen ist. Hat der Begleiter des Sohnes erst die Eltern des Mädchens erschossen und dann sich selbst? Mit den Schmauchspurnachweisen aber verschwinden diese wilden Hoffnungen.

Warum hat sie ihm es nicht gesagt?

Tom Wesnik, der Fotograf, wehrt sich gegen die schreckliche Einsicht, dass sein Sohn ein Mörder ist. Nach der Gewissheit will er fliehen, für sein Blatt wieder auf Foto-Tour gehen. Er möchte sein Herz versiegeln gegen Gefühle, business as usual. Das geht nicht. Es zwingt ihn zurück an den Ort des mörderischen Geschehens, die Wut der Dorfbewohner ist ihm egal.

Er recherchiert. Er spricht mit seiner Tochter Marlene (Dzmilja Anastasia Sjöström), die auch keine Erklärung für die Tat des Bruders hat. Er befragt Lukas' Freundin und erahnt ein Eifersuchtsdrama zwischen seinem Sohn und dessen Kumpel.

Das Stöbern in Lukas' Zeichnungen zeigt dann eine Persönlichkeitsspaltung: die Bedrängung durch alptraumhafte Phantasien einerseits und die kindliche Idealisierung des Vaters als Helden andererseits, der das Elend der Welt fotografiert und deshalb nicht zu Hause sein kann.

Dann ist seine Frau Gegenstand seiner Gefühlsverwirrung. Warum hat sie ihm nicht gesagt, dass Lukas in Therapie war? Warum kann ihm der Therapeut (Jan-Gregor Kremp) des Sohnes nicht mehr sagen? Warum kann der Oberfachmann Lukas nicht Schuldunfähigkeit attestieren? Weil das nicht stimmen würde. Warum gibt es keine juristischen Tricks? Weil die nichts helfen, wie Wesniks Anwältin (Katharina Wackernagel) ihm in untrüglicher Gelassenheit klarmacht.

Der Vater versucht schließlich, sich dem Sohn durch Verachtung zu entziehen. Er will innerlich desertieren. Er verweigert den Besuch im Gefängnis. Er will ihn verleugnen: Ich kenne den Menschen nicht mehr. Vergebens.

Ferch spielt das alles mit äußerster Präzision und Kargheit. Es ist der Zorn im Auge, es ist das ungeduldige Mahlen des Kiefers, das hasserfüllte Vorschieben des Kinns - alles Gesichtsregungen, die viel mehr sagen als die Worte. Und es ist die Kamera (Arthur W. Ahrweiler), die alles sorgsam protokolliert. So zurückgenommen und intensiv war Ferch noch nie zu sehen.

Am Ende wechselt die Atmosphäre des Schweigens. Waren am Anfang die Akteure stumm vor Wut und Ratlosigkeit, sind sie es zum Schluss aus Einsicht und, ja, vielleicht aus Liebe.

"Ihr seid nicht schuld!", schreibt der Sohn aus dem Gefängnis. Kain steht vor einem anderen Gericht als dem der Familie. Ein großartiger Film.


"Vater Mutter Mörder", Freitag, 21.50 Uhr ZDFneo, Montag, 20.15 Uhr, ZDF

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren