ZDF-Show "Menschen 2010": Alles klamaukig abgefedert
ZDF-Show "Menschen 2010"
Für jede Katastrophe eine Zirkusnummer
Bloß keine Atempause: Der ZDF-Jahresrückblick "Menschen 2010" ermüdete mit schnellem Wechsel zwischen Tränendrüsendruck und Mitklatschnummern. Immerhin: Mit dem "Wetten, dass..?"-Unfall ging Moderator Gottschalk angemessen um.
Der
Unfall des "Wetten, dass..?"-Kandidaten Samuel Koch stand ganz am Anfang von Thomas Gottschalks Jahresrückblick. Oder besser gesagt: War der Show vorgeschaltet. Thomas Gottschalk zeigte sich sichtlich bemüht, den schweren Sturz des 23-jährigen Stuntman nicht in den bunten Jahresrückblicksreigen von Sofagästen, Einspielern und Bühneneinlagen einzureihen.
Stattdessen gab es vorab ein ruhiges
Interview mit dem Vater Christoph Koch. Der sprach bleich und mitgenommen davon, man habe "Anlass zur Hoffnung", dass Samuel trotz der schweren Rückenmarksverletzungen wieder gehen können werde. Er habe das Gespräch "als Betroffener" geführt, erklärte Gottschalk. Wie zur Bekräftigung hatte er nicht eins der sonst unvermeidlichen Glitzerjacketts angelegt. Sondern ein schwarzes. Mit Samtkragen.
Am Anfang stand das Unglück, schließlich galt es auch zu verhindern, dass der Rückblick auf ein Jahr, in dem 250.000 Menschen in Haiti und 21 bei der Love Parade starben, am Ende um einen schweren Unfall in einer TV-Show kreist. So weit alles angemessen gehandhabt.
Dann ging es los: Drei Stunden Rückblick-Show. "Ich habe mich entschlossen, dich in diesem Gespräch zu siezen", eröffnete Gottschalk das Gespräch mit Karl-Theodor zu Guttenberg - und vergaß den guten Vorsatz sofort. Gutti nahm den Duz-Gottschalk gelassen und charmierte Schmeicheleien wie "
politische Lichtgestalt des Jahres" routiniert weg. Nach knapp zwei Jahren Status als beliebtester deutscher Politiker weiß der Mann auch längst, dass man nach einem Satz, der auf "will ich mir die Bodenhaftung bewahren" endet, eine Pause für den Applaus setzen muss.
Es folgte ein bisschen Polit-Satire von "Frontal 21" und ein
Lachanfall-Clip mit einem Schweizer Politiker. Danach Gottschalk: "Auch in diesem Jahr hat die Natur wieder überall verrückt gespielt." Der Ökokollaps-Zusammenschnitt kurvt rasant vom deutschen Eiswinter über die
isländische Vulkan-Aschewolke bis zur
Deepwater-Horizon-Ölpest und der
pakistanischen Flut, um schließlich beim
Erdbeben in Haiti aufzusetzen. Auf dem Sofa sitzt schon ein Adoptivelternpaar mit eigenartig forschen Frisuren, vor ihnen spielt der "kleine Luis", unschwer als haitianisches Kleinkind zu identifizieren. Ein Professor darf erklären, dass das
Fifa-Votum für Katar klimatechnisch eine "schwachsinnige Entscheidung" war. Hurtig bindet Gottschalk den Klimakatastrophen-Block mit den Worten "Jeder von uns sollte sein Umweltbewusstsein schärfen" ab und überreicht dem kleinen Luis noch ein riesiges Paket in metallic-rotem Geschenkpapier. Wie wohl die CO2-Bilanz des Präsents aussieht?
Staatstragende Abbinder
"Der Deutsche hat wieder Spaß am Protestieren", erklärt Gottschalk, und nach dem lustigen
Protestbürger-S-21-Zusammenschnitt von Oliver Welke darf das Funpatrioten-One-Hit-Wonder "
Uwu Lena" seinen Sommerkracher "Schland O Schland" performen. Spätestens bei diesem schlimmen Rumgehampele auf Lena-Basis (wo war die eigentlich?), wünscht man sich sehnlichst in jene längst verflossene, natürlich grässlich nüchterne TV-Epoche zurück, als Jahresrückblicke noch nicht versucht haben, Familienshows zu sein.
Bei dem Elvis singenden und
Marathon laufenden Chile-Kumpel Edison Peña funktioniert es noch einigermaßen. Aber kaum hat er seine Kurbel-Taschenlampe, die den Bergleuten Licht im Schacht spendete, vorgeführt, ist schon die nächste Mitklatsch-Einlage dran: Ein Landsmann des Chile-Kumpels tanzt mit einem schwarz-rot-gold berockten Hund Merengue. Auf jede Katastrophe folgt eine Zirkusnummer, jedes Drama muss klamaukig abgefedert werden.
Je fortgeschrittener die Stunde, desto ermüdender dieses Format - vor allem, weil es zu einer Taktung zwingt, die aus Zeitzeugen und Beobachtern Stichwortlieferanten macht. Selbst da, wo Gottschalk sich um Ernsthaftigkeit bemüht. Der von der
Duisburger Love Parade traumatisierte 17-Jährige lässt keinen Zweifel daran, dass ihn die Ereignisse sein Leben lang verfolgen werden. Die "Zeit"-Reporterin versucht noch unterzubringen, was für ein Irrsinn es gewesen ist, so viele Menschen durch diesen engen Tunnel zu jagen - da muss schon wieder der nächste Abbinder her. Den liefert NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft staatstragend: "Bei aller Lockerheit, es geht um Menschen und um Sicherheit." Und weiter geht's. Keine Atempause, Jahresrückblick-Show wird gemacht.
Alice Schwarzer, auch so eine Gottschalk-Duzfreundin, nimmt sich Raum, dem Publikum
ihre Sicht des Kachelmann-Prozesses beizupulen - für den
Feminismus-Streit mit Familienministerin Kristina Schröder reicht der Slot dann schon nicht mehr. Dafür gibt's
Oberammergau, Mario Adorf und Iris Berben, ein Seglerpaar, dem ein Glattwal auf's Boot gehüpft ist, Jungeltern-Comedy mit Michael Mittermeier,
Alterssex mit der Wiener Autorin Elfriede Vavrik. Und natürlich reichlich
WM-Nachlese mit Oliver Kahn, Günter Netzer, Gerhard Delling und Katrin Müller-Hohenstein. Deren
"Reichsparteitag"-Fauxpas lässt der Thommy genau so links liegen wie WikiLeaks und Sarrazin, zwei Themen, die er nur in Nebensätzen andeutungsweise streift. Dass dieser ZDF-Jahresrückblick mit der humorfreiesten Lothar-Matthäus-Persiflage aller Zeiten endete, war nur konsequent.
10 BilderZDF-Show "Menschen 2010": Alles klamaukig abgefedert
1 / 10
Schwarzer Anzug. Aber mit Samtkragen, das dann doch: Thomas Gottschalks erster TV-Auftritt nach dem schweren Unfall bei "Wetten, dass..?" beginnt angemessen ruhig.
Foto: Andreas Gebert/ dpa
2 / 10
"Ich habe mich entschlossen, Dich in diesem Gespräch zu siezen": Die beiden Franken Karl-Theodor zu Guttenberg und Thomas Gottschalk beim ZDF-Jahresrückblick "Menschen 2010"
Foto: Andreas Gebert/ dpa
3 / 10
Mario Adorf und Iris Berben auf Gottschalks Sofa: Man wünscht sich in die TV-Epoche zurück, als Jahresrückblicke noch nicht versucht haben, Familienshows zu sein.
Foto: Andreas Gebert/ dpa
4 / 10
Edison Pena (rechts), der Elvis singende und Marathon laufende Chile-Kumpel nebst Gattin: Kaum hat er die Kurbel-Taschenlampe vorgeführt, ist schon die nächste Mitklatsch-Einlage dran.
Foto: Andreas Gebert/ dpa
5 / 10
Michael Mittermeier bei "Menschen 2010": Jungeltern-Comedy
Foto: Andreas Gebert/ dpa
6 / 10
Oberammergau statt Sarrazin oder WikiLeaks: Christian Stueckl (links), Spielleiter der Passionsspiele, mit seinem Jesus-Darsteller Andreas Richter
Foto: dapd
7 / 10
Thema Alterssex: Die österreichische Autorin Elfriede Vavrik im Gespräch mit Thomas Gottschalk.
Foto: Andreas Gebert/ dpa
8 / 10
Für den Feminismus-Streit mit der Familienministerin fehlte schon die Zeit: Alice Schwarzer erklärt Thomas Gottschalk ihre Sicht auf den Fall Kachelmann.
Foto: dapd
9 / 10
Keine Rede vom "Reichsparteitag": WM-Nachlese mit den Herren Delling, Netzer und Kahn
Foto: Andreas Gebert/ dpa
10 / 10
Konsequentes Ende: Matze Knop brachte die humorfreieste Lothar-Matthäus-Persiflage aller Zeiten.