NATIONALHYMNE Über alles
Das Virus lauerte zuerst bloß im Stuttgarter Stadtteil Heumaden, doch dann breitete es sich aus. Nun sind Professoren davon befallen und ein Dichtersohn, Politiker sowieso. Selbst auf dem Fußballrasen ist Arges zu fürchten. Das fragliche Virus trägt zur Trübung des Bewußtseins bei bis hin zu milden Formen der Geistesverwirrung. Unterstützt wird das Krankheitsbild von sanften Blähungen im Seelenleben. Das Virus befällt Patienten mit der Gnade der späten Geburt, doch nicht nur die. In diesen Tagen breitete es sich aus, im Streit um das »Lied der Deutschen«, von dem den Deutschen und ihren Nachbarn immer nur die erste Strophe in den Ohren klingt ("über alles in der Welt"), wo doch die dritte Strophe bei hoheitlichen Anlässen (Staatsbegräbnisse, Sendeschluß) gelten soll.
Dieses »Deutschlandlied« hat August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 auf der damals britischen Insel Helgoland zu Papier gebracht und um vier Louisdor an den Verleger Julius Campe verkauft, der es zusammen mit der Melodie aus Joseph Haydns Kaiserquartett auf den vormärzlichen Markt warf. Das war, als es das Reich noch nicht (und nicht mehr) gab, als Maas und Memel rein assoziative Bedeutung hatten wie heute Tünnes und Schäl.
Für 1986 neu entdeckt hat die badenwürttembergische Landtagsabgeordnete Helga Solinger die Gefahr: bei den Kleinen im Ländle, bei Schülern der Klasse vier der Grundschule Heumaden. Dort mußten die Zehnjährigen im Musikunterricht das Deutschlandlied in toto erlernen, also mit »über alles«, mit Etsch, Belt, Wein, Weib, Gesang.
Ob das, fragte die Sozialdemokratin beim schwarzen Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder an, den »Intentionen« seiner Behörde entspreche. Das tue es, schrieb der Minister im Februar zurück, und hörte ihn heute Deutschland, so morgen die ganze Welt.
1922 machte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert das Deutschlandlied zur Nationalhymne, um die Rechte zu ködern. Später diente es als Vorspann für das Horst-Wessel-Lied.
Die Alliierten erklärten das Werk nach dem Zweiten Weltkrieg für verboten, doch schon 1952, zwei Jahre vor dem ersten Fußball-Weltsieg in Bern, erhoben Kanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss, letzterer grummelnd, die dritte Strophe zur Hymne und die beiden anderen zu deren Beiwerk. So kam es, daß die Westdeutschen sich nicht mehr, wie das früher bei Auftritten Adenauers geschehen ist, mit
»Heidewitzka, Herr Kapitän« behelfen müssen.
Seit zwei Wochen aber tobt um die Hymne ein heftiger Streit, der im Stuttgarter Landtag Anfang des Monats deutliche Anzeichen der bewußten Krankheit in ihrer ersten Stufe - Taktmangel gegenüber Nachbarn, unterentwickeltes Geschichtsbewußtsein - erkennen ließ.
Anfangs ging es lediglich darum, wie der einzelne Lehrer im Ländle seinen Zöglingen das Deutschlandlied historisch verständlich machen solle. Doch dann durfte im Landtag der Kultusminister Mayer-Vorfelder, der auch als Fußballer weithin gefürchtet ist, übers Deutschlandlied schwadronieren. Der Sportsfreund, der seine Schüler gern »wieder mehr bimsen statt bumsen« sähe, ist Reserveoffizier der Fallschirmjäger und auch sonst recht fit in Geschichte.
Die Franzosen, belehrte Mayer-Vorfelder den Landtag, seien doch auf ihre Marseillaise stolz unter deren Zeichen im Vichy-Frankreich ebenfalls Schreckliches passiert sei. Ohnehin arbeiteten sie emsig »ihre Geschichte auf, auch ihre Geschichte des Dritten Reiches, die in Frankreich gar nicht viel einfacher war als die Geschichte des Dritten Reiches bei uns«.
»Unruhe« und »anhaltende Unruhe« verzeichnete das Stuttgarter Parlamentsprotokoll im Gefolge der »dummen und skandalösen« Äußerung (Frankreichs Politologe Alfred Grosser). »Man muß sich schämen«, »Diese Idioten«, »Sind Sie überhaupt noch nüchtern?«, »Nationalistisches Sauflied«, - mit den Tumulten im Landtag hätte die bewußtseinstrübende Krankheit ihre erste (heilende?) Krise überstehen können. Doch dann eilten deutsche Professoren herbei.
Am aktuellsten äußerte sich der Tübinger Politikprofessor Theodor Eschenburg, der in der inkriminierten ersten Strophe des Deutschlandlieds deutsche Gemütstiefe auslotete, die manchem Nachbarvolk beim »Über alles«-Gedröhne entgangen sein mag. Eschenburg erkannte, daß es in der Hymne »klare defensive Passagen« gibt, »zum 'Schutz und Trutze' beispielsweise«.
Als Denkmodell hat diese Variante immerhin den Vorzug, endlich erklären zu können, warum vor Länderspielen ausgerechnet die obersten Verteidiger der Nation, nämlich der feinfühlige Hans-Peter Briegel und sein fangsicherer Hintermann Toni Schumacher, der Hymne so ergriffen zu huldigen pflegten, letzterer gelegentlich mit geschlossenen Augen.
Poetisch äußerte sich Dichtersohn Golo Mann. Die inkriminierte »Über alles«-Wendung bedeute bloß dies: »Man sagt ja auch, daß man seine Frau über alles liebt.« Und dann priesen die Gelehrten im Hymnentext »zarteste Lyrik« (Mann) und den Ausdruck einer gewissen »Sehnsucht« (Eschenburg). Ohnehin so Mann, sei von Fallerslebens Dichtung wesentlich friedfertiger als die Marseillaise oder die US-Hymne. Sehnsucht und Zartheit, Gefühl und Gemüt - im Streit um die Hymne verkehrte sich die Initiative der wackeren Schwäbin Helga Solinger ins Gegenteil.
»Wollen Sie alle drei Strophen singen?«, fragte »Bild« am vorigen Donnerstag mit voraussehbarem Ergebnis. Stolz bekannte sich Bonns Zimmermann zum ungeteilten Heimatsong.
So lehrt die Affäre, daß Nietzsche recht hatte, als er schrieb: »Die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge - 'Deutschland, Deutschland über Alles', ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie.«