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SOZIOLOGIE Über Leichen

Gegen Hunger und Armut sind sie geschützt, dafür leiden sie eher seelisch -- wie westdeutsche Erwerbslose mit dem Schock fertigwerden, haben die Sozialforscher jetzt untersucht.
aus DER SPIEGEL 20/1978

Anfangs erledigen viele von ihnen mit Feuereifer längst fällige Arbeiten in Haus und Garten. Einige spielen ausgiebig mit den Kindern, andere sortieren ihre Briefmarkensammlung. Manche. früher stets gehetzt, besinnen sich endlich einmal auf sieh seiher:« Man hat«, sagt einer, »jetzt viel Zeit zum Nachdenken.«

Doch schon bald wird die plötzlich frei verfügbare Zeit für die Arbeitslosen zur lähmenden Last. Hatten sie sich zuvor »auf das Wochenende und den Feierabend gefreut«, so rinnen nun die Tage im spannungslosen Einerlei dahin: Sic »zerfließen einem unter der Hand«, klagen viele ein offenbar quälendes, häufig Depressionen auslösendes Erlebnis.

Wie Arbeitslose auf den Verlust der Erwerbstätigkeit reagieren, wem sie die Schuld an ihrer Misere zuschreiben oder von wem sie Hilfe erwarten -- das sind Fragen, mit denen sich die Sozialwissenschaftler neuerdings wieder intensiv beschäftigen. Aktuelle Ergebnisse der sogenannten Arbeitslosenforschung, die während der Weltwirtschaftskrise um 1930 schon einmal in Blüte gestanden hatte, sind soeben als Sammelband -- Titel: »Vom Schock zum Fatalismus?« -- im Frankfurter Campus-Verlag erschienen

Die auf Umfragen, Interviews und Statistiken beruhenden Analysen kreisen um Erfahrungen, wie sie seit 1973 etwa sechs Millionen westdeutschen Arbeitnehmern zuteil wurden: In der Bundesrepublik, so haben die Wissenschaftler errechnet, ist während der letzten fünf Jahre nahezu jeder vierte Erwerbstätige zumindest zeitweilig ohne Beschäftigung gewesen.

Doch obwohl die Erwerbslosigkeit damit wieder zum Massenschicksal geworden ist, hat sie bislang soziale Unruhe kaum ausgelöst -- der Grund: Anders als in den frühen dreißiger Jahren, als sie ihre Opfer mit Hunger und Armut bedrohte, ist die Arbeitslosigkeit inzwischen nicht mehr gleichbedeutend mit drückender materieller Not.

Wohl müssen auch heute nahezu alle Erwerbslosen den zuvor gewohnten Lebensstandard senken, und zwar um so spürbarer, je geringer ihr ehemaliges Arbeitseinkommen war; trotz aller Beihilfen greifen die meisten zur Überbrückung ihre Ersparnisse an.

Dennoch sieht sich, wie die Sozialforscher ermittelt haben, nur etwa jeder zweite Erwerbslose gezwungen, einmal geplante Anschaffungen zurückzustellen; nur rund jeder zehnte gerät mit Ratenzahlungen, Versicherungsbeiträgen oder der Wohnungsmiete in Rückstand.

* Ali Wacker (Herausgeber): »Vom Schock zum Fatalismus? Campus Verlag, Frankfurt/New York; 268 Seiten; 24 Mark.

Lediglich 15 Prozent der Arbeitslosen müssen vorübergehend Schulden machen. Vielfach erhalten sie außer dem Arbeitslosengeld noch zusätzliche Hilfe -- die älteren werden oft dank der Sozialpläne ihrer früheren Arbeitgeber, die jüngeren von Verwandten oder Freunden unterstützt.

Viel schwerer als die finanziellen Belastungen wiegen denn auch die psychischen und sozialen Pressionen, unter denen die Arbeitslosen zu leiden haben. Auch wenn sie vor dem gesellschaftlichen Abstieg geschützt sind, empfinden sie den Arbeitsplatzverlust als Makel: Sie fühlen sich »nutzlos«, »isoliert« und »überflüssig«, ihr Selbstbewußtsein sinkt rasch.

Fast jeder zweite Erwerbslose, so ergaben Umfragen, neigt dazu, seine Situation nach außen zu verheimlichen. Oft gehen die Arbeitslosen nur noch selten aus dem Haus; selbst die Stammkneipe meiden sie. So verlieren sie allmählich den Kontakt zu Freunden und ehemaligen Kollegen, während ihnen zugleich das dauernde Daheimsein zunehmend »auf die Nerven« geht. Die Folge: In 30 Prozent der Arbeitslosen-Haushalte gibt es »häufiger als sonst« Familienkrach.

Trotz starker Selbstzweifel glaubt jedoch nur eine Minderheit, am Verlust der Arbeitsstelle wenigstens teilweise selbst schuld zu sein. Eher sehen sich die Erwerbslosen als Opfer einer importierten Krise.« Die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Ausland«, meinen sie, habe besonders zum Abbau der Arbeitsplätze beigetragen. Als weitere Ursachen werden genannt: allgemeine Mängel im Wirtschaftssystem, »die Gastarbeiter« sowie die »Gewinnsucht der Unternehmer«. Angesichts der Frage, wie der Mangel an Arbeitsplätzen wirksam zu beheben sei, einigen sich die Opfer der Rationalisierung am ehesten auf die Empfehlung, »die Gastarbeiter nach Hause« zu schicken.

Vom Verzicht auf Lohnerhöhungen zugunsten der Stellungslosen halten sie ebensowenig wie vom Arbeitsdienst für Erwerbslose. Auch können die Unternehmer nach ihrer Ansicht die Lage kaum bessern: Die westdeutschen Manager tragen, wie die Arbeitslosen meinen, fast keine Verpflichtung für die erforderlichen Hilfsmaßnahmen; 45 Prozent dagegen rufen nach einem »starken Mann« in der Politik.

Daß es linken oder rechten Radikalen gelingen könnte, die Arbeitslosigkeit als »Konfliktpotential« für politische Zwecke zu aktivieren, halten die Wissenschaftler auf Grund ihrer Forschungsergebnisse gleichwohl für ausgeschlossen. Trotz gelegentlicher Kapitalismus-Kritik will die Mehrheit der Erwerbslosen vom bestehenden politischen und wirtschaftlichen System nicht lassen. Nur 22 Prozent der befragten Arbeitslosen lehnen die These ab: »Wir haben uns für die soziale Marktwirtschaft entschieden, da müssen wir auch die Folgen akzeptieren.«

Aber eine Tendenzwende auf dem Arbeitsmarkt, so urteilen 54 Prozent der Erwerbslosen, müsse in erster Linie der Staat herbeiführen; nur 21 Prozent setzen eher auf die Steuerkunst der Wirtschaftskapitäne. Daß die CDU-Opposition, käme sie ans Staatsruder. erfolgreicher wäre, glaubt nur jeder fünfte Arbeitslose.

Manche meinen, die Arbeitslosen selber sollten sich »zusammenschließen, um ihre Interessen durchzusetzen«. Doch vorerst sehen 52 Prozent der Erwerbslosen »keine Möglichkeit, daran mitzuwirken, daß die Ursachen der Arbeitslosigkeit beseitigt und die Folgen gemindert werden«.

Viele Arbeitslose, so zeigen die Befragungen, wenden sich ab von ihren früheren Wertvorstellungen wie Firmentreue oder Solidarität mit den Arbeitskollegen. Statt dessen folgen sie nun entschlossen einer Maxime, die ein stellungsloser Arbeiter exemplarisch so formulierte: »Weg von der Kollegialität, hin zum Weg über Leichen.«

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