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VERLAGE Übers Ohr gehauen

Ein von Harry Rowohlt herausgegebenes Alfred-Polgar-Lesebuch ist ein unerwarteter Erfolg - Einer jedoch ist empört: der Polgar-Verehrer Marcel Reich-Ranicki.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Vor gut 20 Jahren erfüllte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einen Traum: Er edierte 1982, zusammen mit seinem Kollegen Ulrich Weinzierl, den ersten Band der »Kleinen Schriften« Alfred Polgars, des von ihm seit der Jugend geliebten und verehrten, in Wien geborenen, später von Berlin aus wirkenden Kritikers und Feuilletonisten (1873 bis 1955). Die Ausgabe wuchs bis 1986 auf sechs Bände an und wurde zur Grundlage jeder weiteren Beschäftigung mit dem für seinen eleganten Stil berühmten Journalisten - viele Polgar-Nachdrucke in Zeitungen und Lesebüchern beriefen sich fortan auf die immense Editionsarbeit von Reich-Ranicki, 84, und Weinzierl, 50.

Die erlesene Ausgabe mit blassblauen Schutzumschlägen ist seit langem vergriffen, eine Rowohlt-Taschenbuchausgabe über den ersten Band bisher nie hinausgekommen. Umso größer die Freude bei beiden Herausgebern, als im Herbst 2003 Post aus dem Reinbeker Verlagshaus kam: Eine Sonderausgabe sei geplant, der Verlag Kein & Aber in Zürich wolle eine Auswahl bringen.

Wie groß aber war die Verwunderung, als der Band dann vorlag: Als Herausgeber zeichnet Harry Rowohlt, 59, und im Copyright wird die Rowohlt-Ausgabe zwar erwähnt, doch die Namen der Herausgeber bleiben ausgespart - wobei die Auswahl erkennbar auf deren editorischer Vorleistung basiert (inklusive der wörtlichen Übernahme einer Zeittafel)*.

Nicht genug damit: Im Vorwort wird zwar immerhin Reich-Ranickis Co-Herausgeber Weinzierl freundlich erwähnt, der prominente Kritiker aber, an den der Rowohlt-Verlag einst wegen seiner begeisterten Polgar-Artikel herangetreten war, wird geschmäht: Größere Gegensätze als zwischen Polgar und Reich-Ranicki seien nur schwer denkbar, behauptet Herausgeber Harry Rowohlt unwirsch, und wenn die beiden Zeitgenossen wären, so spekuliert er munter drauflos, würde er zu gern lesen, wie Polgar Reich-Ranicki »den Stecker rauszieht«.

Der Frankfurter Kritiker ist empört. »Zwei Herausgeber, die viele Jahre an dieser Ausgabe gearbeitet haben«, so Reich-Ranicki, »sind hinterlistig um die Früchte dieser Arbeit gebracht worden.« Ziel seines Zorns ist gleichermaßen der Neu-Herausgeber Rowohlt und der gleichnamige Verlag, von dem er sich hintergangen und falsch informiert fühlt - »übers Ohr gehauen«.

Peter Haag, Verlagschef von Kein & Aber, kann die »Aufregung und gekränkten Eitelkeiten« nicht verstehen. Seine Idee war es, den bei einem jungen Publikum beliebten Rowohlt zu fragen, ob er eine Polgar-Auswahl zusammenstellen wolle, denn er fand: »Es ist eine Schande, dass der nicht mehr lieferbar ist.« Inzwischen kann Haag sich sogar über einen unerwarteten Verkaufserfolg freuen: Nachdem Elke Heidenreich die Auswahl in der ZDF-Sendung »Lesen!« gelobt hat ("Man sollte Polgar lesen, weil er Vergnügen macht und gescheit ist"), sind von dem Band bisher 40 000 Stück verkauft worden.

Und im Rowohlt-Verlag? Dort ausgerechnet soll im September eine Taschenbuchausgabe dieser Zürcher Auswahl erscheinen, und Harry Rowohlt plant - Trotzreaktion auf Reich-Ranickis Rüge -, die Häme gegen den Großkritiker in den Neuauflagen zu schwärzen, so »dass die Erstauflage vollends zum Sammlerstück wird«.

Zudem wird man bei Rowohlt zur Schadensbegrenzung im September auch noch schnell die hauseigene, von Reich-Ranicki und Weinzierl herausgegebene Polgar-Ausgabe ins Taschenbuch-Programm nehmen, wenigstens die ersten drei Bände.

VOLKER HAGE

* Alfred Polgar: »Das große Lesebuch«. Zusammengetragen vonHarry Rowohlt. Verlag Kein & Aber, Zürich; 432 Seiten; 22,80 Euro.

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