Zum Tod von Ulrich Kienzle Er brachte Weltbilder zum Wackeln

Ulrich Kienzle gehörte zu den Großen des Fernsehens. Erinnerung an einen Journalisten, der sein Publikum nicht unterforderte, sondern im besten Sinne aufklärte - auch weil er Streit als Gewinn begreifen konnte.
Ulrich Kienzle 1989: Komplexität erhöhen, nicht reduzieren

Ulrich Kienzle 1989: Komplexität erhöhen, nicht reduzieren

Foto: imago stock&people/ imago/teutopress

Bis vor wenigen Wochen flanierte er noch durch die Straßen von Wiesbaden: ein Spaziergänger, den die Leute als Welterklärer kannten. Ulrich Kienzle, der jetzt im Alter von 83 Jahren gestorben ist, genoss die Prominenz und die Anerkennung jener, die noch vor dem Internet im Fernsehen berühmt wurden. Weil diese Personen abends in den deutschen Wohnzimmern zu Gast waren, entwickelte das Publikum zu ihnen auch ein besonderes Vertrauen. Es hielt meist ein Leben lang.

Kienzle, Jahrgang 1936, studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in München und Tübingen und begann seine Fernsehkarriere 1963 beim Süddeutschen Rundfunk, als öffentlich-rechtliches Fernsehen noch eine akademisch anmutende Veranstaltung von Männern im Rollkragenpulli und mit randloser Brille war. Quoten wurden noch nicht gemessen, die radikale Überforderung des Publikums war Programm.

Arbeit, die vom persönlichen Interesse lebte

Kienzle übertrieb es nicht mit einer Erklär-Pädagogik, die die Zuschauer infantilisierte, noch arbeitete er mit einem Nutzwert- oder Servicegedanken: Der Nahe Osten und Südafrika waren Gebiete, in denen er gelebt und gearbeitet hatte - aber er sah den Sinn seiner Arbeit nicht darin, den Zuschauern klarzumachen, was das mit dem deutschen Alltagsleben zu tun hätte.

Ulrich Kienzle 2018: Komplexität wurde erhöht, nicht reduziert

Ulrich Kienzle 2018: Komplexität wurde erhöht, nicht reduziert

Foto: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/ picture alliance / Geisler-Fotopress

Seine Arbeit lebte von seinem persönlichen Interesse und er spekulierte darauf, dass auch andere das interessant fänden, ohne sie mit besonderen Mätzchen und Einlagen ködern zu müssen. Und das klappte auch: Kienzle stiftete in seinen Filmen aus aller Welt keinen Sinn in einem absurden Geschehen, sondern differenzierte und schockierte, bis die Weltbilder wackelten. Er enthüllte etwa die israelische Unterstützung für die Maroniten im Libanon und zog sich dafür den Zorn seines Intendanten zu, später gab die israelische Regierung alles zu.

In seinen Berichten aus der weiten Welt oder in der von ihm ebenfalls gepflegten Regionalberichterstattung – er erfand als Chefredakteur von Radio Bremen das noch heute bestehende Format "buten un binnen" – wurde Komplexität erhöht, nicht reduziert. 

Ulrich Kienzle (links) im "Frontal"-Studio gemeinsam mit seinem Kollegen Bodo Hauser, der 2004 verstarb

Ulrich Kienzle (links) im "Frontal"-Studio gemeinsam mit seinem Kollegen Bodo Hauser, der 2004 verstarb

Foto: TBM/ picture alliance / United Archives

Als er 1990 in der Kantine des ZDF-Gebäudes in Mainz des Öfteren mit seinem konservativen Kollegen Bodo Hauser aneinandergeriet und die beiden über Tische hinweg mit großer Lautstärke ihre weltanschaulichen Kontroversen entwickelten, kam der damalige Chefredakteur Klaus Bresser auf die Idee, den Streit vom Mittagessen fernzuhalten und auf den Schirm zu verlagern. Das war etwas Neues. Bislang hatte das linksliberale Publikum seine Sendungen gehabt, etwa "Kennzeichen D" - und das konservativere das "ZDF-Magazin" mit Gerhard Löwenthal.

Nun aber saßen sich Rot und Schwarz gegenüber, der vermögende Millionärssohn Bodo Hauser, ein passionierter Jäger mit feinem Humor, und der kosmopolitisch gesinnte Reporter Kienzle. Sie boten ordentlichen Austausch, manchmal echten Streit, ohne je den Rahmen bürgerlicher Umgangsformen zu verlassen. Das war gutes Fernsehen.

Wie auch immer künftige Medien sich organisieren und finanzieren – sie müssen es schaffen, dass Journalisten so gelassen und neugierig, konfliktfreudig und angstbefreit arbeiten können wie Ulrich Kienzle.

Ulrich Kienzle scheute keine Konfrontation und er trieb es bis an die Schmerzgrenze, als er den irakischen Diktator Saddam Hussein zum Interview traf. Den Handschlag mit dem Massenmörder nannte er zwar den peinlichsten Moment seines Lebens, aber er berichtete auch, dass Hussein eigentlich nicht unsympathisch gewesen sei. Dass Monster schicke Anzüge tragen und nett sein können – auch damit müssen erwachsene Zuschauer klarkommen.

Kienzle blieb bis ins hohe Alter ein gefragter Gesprächspartner und es lohnt sich, seine Analysen des Arabischen Frühlings, der Entwicklungen in Libyen und Syrien nachzuhören. Wie auch immer künftige Medien sich organisieren und finanzieren – sie müssen es schaffen, dass Journalisten so gelassen und neugierig, konfliktfreudig und angstbefreit arbeiten können wie Ulrich Kienzle. Denn solcher Journalismus ist Aufklärung und findet seinen Zweck in sich selbst.

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