DIGGELMANN Umherziehende Person
David Boller stand vor dem Schaufenster einer Züricher Buchhandlung und sinnierte: »Nichts als Belletristik. Kein einziges Buch, dessen Titel darauf schließen ließ, daß es sich mit der jüngsten Vergangenheit der Schweiz befaßte.«
David Boller ist der Held eines Buches, das sich mit politisch-problematischer Vergangenheit und Gegenwart der Schweiz befaßt und deshalb in der Schweiz umstritten ist: »Die Hinterlassenschaft«, ein aus Dichtung und Dokumenten-Wahrheit montierter Roman des Züricher Schriftstellers Walter Matthias Diggelmann, 38**.
Diggelmanns Roman-Held David Boller entdeckt beim Tode seines vermeintlichen Vaters, daß dieser in Wirklichkeit sein Großvater gewesen ist; Davids Vater war ein deutscher Jude namens Fenigstein, der - zusammen mit Davids Mutter - von den Nazis umgebracht wurde, nachdem er beim Versuch, in die Schweiz zu fliehen, von den Schweizer Grenzbehörden abgewiesen worden war.
Dieses fiktive Schicksal fundiert Diggelmann nach neuester Literatur-Mode mit,zeitgenössischen Dokumenten - mit Material über die Flüchtlingspolitik der Schweiz zur Hitler-Zeit. Er zitiert aus einem Brief des schweizerischen Gesandten in Berlin vom Mai 1938 («... daß es auch im Interesse der schweizerischen Juden-liegt, einen weiteren Zustrom an ausländischen Juden abzuwehren"), aus einer schweizerischen Polizeiverordnung von 1942 («... ist darauf zu achten, daß Flüchtlinge, die zurückgewiesen werden müssen, mit niemandem... Fühlung nehmen können") und aus nazifreundlichen Verlautbarungen »vaterländischer« Schweizer Politiker.
Diggelmanns David muß erkennen, daß manche einst nazinahen Eidgenossen auch heute noch politischen Einfluß besitzen, daß es auch in der Schweiz immer noch Antisemiten gibt ("Wann verschwindet in der Schweizer Armee endlich der Ausdruck 'Iigstampfte Jud' für die Fleischkonserven?") und daß auch eidgenössischer Chauvinismus Pogrome zu produzieren vermag:
Der in der »Hinterlassenschaft« beschriebene, von einer rabiat antikommunistischen »Aktion frei sein« gegen einen marxistischen Intellektuellen inszenierte »Pogrom von T.« ist detailgetreu einem realen Vorfall nachgebildet, der sich im November 1956, nach dem Ungarn-Aufstand, im Städtchen Thalwil ereignet hat.
Diggelmanns Buch endet mit Davids Tod: Der Vergangenheitsbewältiger, der sich auch durch Herausgabe einer nonkonformistischen Zeitschrift bei seinen Schweizer Landsleuten unbeliebt macht, wird bei einer Wirtshausrauferei erschlagen.
Autor Diggelmann machte sich zunächst bei seinem Schweizer Verleger unbeliebt. Ende 1964 lehnte der Verlag Benziget, Einsiedeln, obwohl Diggelmann schon Vorschüsse bezogen hatte, das Roman-Manuskript ab: »Wir publizieren keine politischen Pamphlete.« Auf Gegenliebe stieß der Schweizer Autor in Deutschland und bei einem Deutschen: Rowohlt und Piper bemühten sich uni die »Hinterlassenschaft«, Piper war schneller. Rolf Hochhuth, seit zwei Jahren bei Basel ansässig, sprach dem Schweizer Kollegen seine Anerkennung aus.
Die »Zürcher Woche« druckte das (faktisch interessante, künstlerisch linkische) Buch in Fortsetzungen ab und empfing Leserbriefe, in denen der Autor als »Nestbeschmutzer« beschimpft wird. Das Stadttheater Basel jedoch, das schon Hochhuths »Stellvertreter« unter Tumult aufgeführt hat, bat Diggelmann inzwischen um eine Dramatisierung seines Romans.
In der Bundeshauptstadt Bern aber stieß der eid- und zeitgenössische Autor auf besonders eigentümlich-eidgenössische Komplikationen.
Die Berner Polizei wollte einen geplanten Diggelmann-Vortrag unter Hinweis auf das schweizerische Hausierer-Gesetz verbieten: »Umherziehende Personen, die durch musikalische, theatralische oder andere Veranstaltungen, Aufführungen und Schaustellungen einen persönlichen Erwerb bezwecken, bedürfen hierzu einer Bewilligung der kantonalen Polizeidirektion.«
Erst als Diggelmann - nicht im Besitz eines »Patents für das Wandergewerbe« - offiziell erklärte, er werde auf persönlichen Erwerb, auf ein Honorar, verzichten, durfte er seinen Vortrag halten.
Der Veranstalter, ein »Literarischer Podiums-Keller«, zahlte dein Schriftsteller dennoch nachträglich zehn Fränkli aus - die Literaten wollen sehen, was die Berner Behörden nun gegen den »unbequemen Entblößer unbewältigter Schweizer Vergangenheit« (so die Züricher Zeitung »Blick") unternehmen werden.
** Walter Matthias Diggelmann: »Die Hinterlassenschaft«. R. Piper Verlag, München; 304 Seiten; 16,80 Mark.
Schweizer Autor Diggelmann
Fränkli für Fenigstein,