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LUFTFAHRT Unaufhaltsamer Aufstieg

Ein heimtückischer Defekt hätte beinahe eine weitere Flugzeug-Katastrophe verursacht -- aber in aussichtslos anmutender Lage tat ein Pilot instinktiv das Richtige.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Mit »den Fingerspitzen könnte er geflogen werden«, so feinfühlig reagiere der mächtige Luftriese vom Typ Lockheed L-1011 »TriStar«. Den Werbespruch der US-Fluggesellschaft Delta kann Delta-Kapitän Jack McMahan, 56, nicht bestätigen.

Am 12. April 1977, auf der Startbahn des Airports von San Diego, ließ McMahan seinen TriStar, Delta-Flug 1080, routinemäßig unter Vollgas zum Nachtstart anrollen. Plötzlich, wie von Geisterhand gelenkt, ohne Zutun der entsetzten Piloten, hob das Flugzeug ab. In steilem Steigflug bohrte es sich in die dicke Wolkendecke, hob die »Nase« immer höher -- außer Kontrolle.

So begann der horribelste Flug, den Kapitän McMahan je erlebt hat, »Mit einem Male«, so der Pilot über den Flugverlauf, dessen Einzelheiten erst jüngst von der US-Luftfahrtbehörde FAA publik gemacht wurden, »war mir klar: wir können die Maschine nicht mehr halten -- sie reagiert nicht mehr.

Schlagartig wurde dem Kapitän damals bewußt, daß eine Woche vorher eine DC-9 der »Southern Airways« abgestürzt (72 Tote), daß zwei Wochen zuvor auf Teneriffa zwei »747«-Jumbos kollidiert waren (582 Tote). »Unfälle kommen in Dreier-Serien, heißt es, und ich dachte: »Mein Gott, wir sind Nummer drei"«, erinnerte der Flugzeugführer später.

So verzweifelt sich die beiden Piloten auch an ihren Steuersäulen muhten -- das Flugzeug stieg in immer steilerem Winkel. Statt der normalen 15 Grad lasen die Flugzeugführer von ihren Instrumenten bald 18, dann 20, dann 22 Grad ab. Und zugleich verfiel, trotz voller Schubleistung aller drei Triebwerke, die Geschwindigkeit -- von 150 Knoten auf 145, auf 143 und auf 140 Knoten.

McMahan wußte nur zu gut, was das bedeutete: Binnen weniger Augenblicke drohte »Stall«. jener gefürchtete, überzogene Flugzustand, der dem Abreißen der tragenden Luftströmung und dem unweigerlichen Absturz voraufgeht. Der Kapitän machte sich »ein sehr klares Bild« über das, was nun weiter passieren würde: Die Maschine müßte »sich aufbäumen. über die linke Fläche abrollen und dann senkrecht runter ins Wasser«.

Als das Vorschieben der Steuersäule, üblicher Handgriff für die Rückkehr zu einem normalen Steigwinkel, nichts gefruchtet hatte, war den Piloten zunächst alles eingefallen, was Lehrbuch und Erfahrung für diese Situation anraten.

In fliegender Hast testeten und versuchten die Flieger und der Bordingenieur auch den Einsatz aller anderen Systeme, die Steigwinkel und Trimmung wurden beeinflussen können -- ohne Erfolg. Immer wieder stellten sich die drei Männer im Cockpit die gleichen Fragen: »Fehler gemacht? Was vergessen?«

Sie fanden nichts, wußten nur eines: Obwohl alle Instrumente normal anteigten. die Turbinen störungsfrei liefen, brachte ein tückisches Übel das Flugzeug an den Rand des Absturzes. McMahan: »Wir hatten ein Problem. kannten aber weder seine Ursache, noch hatten wir ein Verfahren, ihm abzuhelfen.«

In dieser verzweifelten Lage, Sekunden vor dem Abkippen, riß der Kapitän alle drei Triebwerkhebel zurück, verringerte damit die Schubkraft. Nach dem Lehrbuch war das falsch: Verminderte Schubkraft wurde die Geschwindigkeit noch mehr mindern und die Stall-Gefahr nur noch erhöhen. Die ungewöhnliche Maßnahme half: Der Kapitän spürte, daß die Maschine, wenn auch nur schwach, wieder auf die Bewegung der Steuersäule reagierte.

Nun kam dem Flugzeugführer die zweite rettende Idee: Er ließ die Triebwerke eins und drei -- unter den Tragflächen -- gedrosselt, erhöhte aber den Schub des Triebwerks Nummer zwei, im Heck. Erfolg: Die Nase sank auf 18 Grad, die Geschwindigkeit stieg auf 150 Knoten. Zusätzlich ließ McMahan alle 41 Passagiere in den Vorderteil der Kabine wechseln, um die Trimmlage tu verbessern.

Dann steuerte er den Flugplatz Los Angeles zur Notlandung an. Im Endanflug, heim Ausfahren des Fahrwerks, begann das vertrackte Flugzeug wieder seinen geisterhaften Steigflug, so daß Flug 1080 im Nu weit über dem Gleitpfad des Instrumenten-Lande-Systems flog -- aber McMahan war darauf gefaßt. Noch lauter ließ er das Hecktriebwerk aufheulen. Das Flugzeug kehrte zum Gehorsam zurück.

Der Kapitän riskierte außerdem, die »Flaps« (Landeklappen) an den Tragflächen nur geringfügig auszufahren -- nur so konnte er mit unvorschriftsmäßig hoher Landegeschwindigkeit -- 170 Knoten statt sonst 130 -- einschweben, die er brauchte, um weitere plötzliche Steigfluglaunen der Maschine in Bodennähe zu unterbinden.

Als die Lockheed auf die Piste aufgebumst und nach einer Gewaltbremsung zum Stehen gekommen war, fragte der Fluglotse vom Tower: »Delta 1080, alles ok?«

Was nicht in Ordnung war, stellte sich bald heraus: Eindringendes Wasser hatte am Leitwerk ein Lager korrodieren und platzen lassen, wodurch sich ein Höhenruder verklemmt hatte, und zwar in der »Steig«-Stellung. An einigen anderen Lockheed TriStars fanden sich gleichfalls beginnende Korrosionsschäden dieses Bauteils.

Flugkapitäne«, verkündete einst ein Top-Manager der Deutschen Lufthansa, »kriegen ihre hohen Gehälter vorwiegend, damit sie in gefährlichen Ausnahme-Situationen ein bißchen genialisch reagieren.«

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