KURZWAGEN Unerwünschter Raum
Immer wieder wird gefragt«, so schrieb
die Stuttgarter Automobilfachzeitschrift »mot«, »Warum die (bundesdeutschen) Massenproduzenten konventionelle Autos bauen, statt sieh von den Austin-Ideen mitreißen zu lassen.«
Doch die deutsche Autoindustrie will sich nicht mitreißen lassen. Den Grund sieht sie in der Mentalität ihrer zahlenmäßig stärksten Kundschaft, der Käufer von Klein- und Mittelklassewagen: Technische Fortschritte auf dem Gebiet des Karosseriebaus - also auch »Austin -Ideen« - widerstreben dem Geschmack der Deutschen.
Unter »Austin-Ideen« sind Karosserieformen zu verstehen, die Englands größtem Automobilproduzenten, der »British Motor Corporation« (BMC), mit den 1,1 -Liter-Wagen Austin 1100, Morris 1100 und MG 1100 zu einem Welterfolg verhalfen. Alle drei Wagen tragen praktisch das gleiche Blechkleid. Es Mutet an wie eine Mischung aus einem Kombiwagen (im US-Autojargon »Station-Car« genannt) und der herkömmlichen Autoform mit überhängenden Bug- und Heckpartien.
Die Vorteile dieser Bauweise ("Die Welt": »Ist das die morgen gültige Autoform?") gegenüber der deutschen Standardform sind so eindeutig, daß sie sich schon auf einer kurzen Probefahrt erschließen: Bei den BMC-Autos steht den Fahrgästen im Verhältnis zu den Abmessungen der Wagen ein Höchstmaß an nutzbarem Innenraum zur Verfügung. Die 1,1-Liter-Autos aus England vereinigen die Handlichkeit eines bei der zunehmenden Verkehrsdichte vorteilhaften Kurzwagens - sie sind rund 20 Zentimeter kürzer als der 3,92 Meter lange Opel-Kleinwagen Kadett - mit dem Raumkomfort eines Mittelklasse-Autos.
Urheber dieses Effekts ist Alec Issigonis, Technischer Direktor der BMC. Beim Entwurf der 1100er-Typen, für die Turins führender Maßschneider Pininfarina die Karosserie zeichnete, ging Issigonis streng von einem Grundsatz aus, den andere Autofabriken offenbar weniger gründlich befolgen: Verwendungszweck, eines Personenwagens ist in erster Linie der Transport von Menschen.
»Er ist dagegen, daß die Menschen in
enge und niedrige Autos gequetscht werden, nur weil es eine dumme Mode so will«, erläuterte das Fachblatt »Auto, Motor und Sport« Issigonis' spezielles Bemühen. »Er schafft ihnen zwischen den vier Rädern soviel Platz wie möglich und bringt Antriebsaggregate und Radaufhängungen irgendwo am Rande unter.«
Issigonis nahm sich zunächst die von jeher unter den Motorhauben herrschende Platzverschwendung vor. »Hier vorn am Motor«, so kennzeichnete einmal Opels Chefkonstrukteur Hans Mersheimer diese Schwäche der Standardbauweise, »bleibt viel Raum übrig, mit dem wir nichts anfangen können - er wird verschenkt.« Der BMC-Konstrukteur wollte nichts verschenken. Er installierte einen mit Vorderradantrieb gekoppelten Motor, der - im Gegensatz zur herkömmlichen Bauart - quer gelagert wurde, mithin Raum sparte. So konnte der Innenraum nach vorn ausgedehnt werden.
Eine ähnliche, optisch freilich einschneidendere Operation nahm Issigonis auch am Heck vor. Er trennte das übliche Stufenheck ab und verlegte die Hinterachse weit nach rückwärts. Dadurch entstand - wenngleich unter Verkleinerung des Kofferraums - insgesamt ein für diese Klasse einmalig langer Innenraum: Er ist zehn Zentimeter länger als der des VW 1500 und genauso lang wie der Nutzraum des Opel Rekord.
Obwohl der Wagen noch rund sechs Zentimeter niedriger ist als etwa der Opel Kadett, bietet er seinen Fondpassagieren mehr Kopffreiheit als viele Mittelklassewagen. Die ungewöhnlich breite Karosserie (mit entsprechend großer Spurweite der Räder, wie sie sonst nur in Mittelklasse-Autos üblich ist) sichert den Fahrgästen überdies viel Bewegungsfreiheit - »ein echter Fünfsitzer«, wie die »Süddeutsche Zeitung« rühmend hervorhob.
Trotz aller Vorteile ist der Materialaufwand kaum größer als bei Wagen mit Stufenheckbauweise. Und sogar das Fahrverhalten wird durch die geänderte Heckform günstig beeinflußt. Der Luftwiderstand - der bei Geschwindigkeiten über 80 Stundenkilometer zur beherrschenden Einflußgröße wird - läßt sich allerdings durch die BMC-Bauweise nicht vermindern. Doch bildet sich bei höheren Geschwindigkeiten am stark abgeschrägten Heck eine Art Wirbelschleppe, die sich stabilisierend auswirkt.
»Diese Karosserieform wäre eine Ideal-Lösung für den VW 1500; warum soll man etwas Gutes nicht nachmachen?« empfahl »Auto, Motor und Sport« und lobte den Entwurf insgesamt als ersten VW-Konkurrenten, »der wirklich ebenbürtige Züge aufweist«.
Für »mot« wurde das Issigonis-Auto sogar zum »Leitbild eines Traumwagens der Vernunft«. Das Blatt veröffentlichte nach dem Vorbild des Austin 1100 einen Kurzwagen-Entwurf, »wie er wohl aussähe, wenn Opel ihn baute«, und kam zu dem Schluß, »daß amerikanischer Stil und Vernunftauto durchaus zusammenpassen«.
Aber die deutschen Autobauer sind der Ansicht, das Publikum wolle von der standardisierten Bauform des Stufenhecks nicht lassen - obwohl es sich dabei um nichts weiter als eine Mode
handelt. Noch bis weit in die zwanziger Jahre hinein hatten alle Limousinen senkrechte Rückwände. Überlandfahrer pflegten das Gepäck außenbords auf einer hinter der Rückwand montierten Kofferbrücke festzuschnallen. Die Gepäckbrücke wurde schließlich mit Blech umkleidet und entwickelte sich - auf Kosten des Innenraums - zu den heutigen Koffer-Abteilen.
Da der Kofferraum meist einen nicht unbeträchtlichen Teil der gesamten Wagenlänge ausmacht, der bundesdeutsche Durchschnittsfahrer jedoch gemäß dem Ford-Slogan »noch mehr Auto fürs Geld« verlangt, leuchtet die Argumentation der Adam Opel AG ein, »daß der allgemeine Geschmack und das Formempfinden der Käuferkreise sich... noch weiterentwickeln müssen«, ehe das Stufenheck in Deutschland verschwinden kann. Denn, so formulierten es die Glas-Automobilwerke in Dingolfing, »noch rangieren beim Autokauf geschmackliche vor reinen Vernunftgründen«.
Dem Geschmack der deutschen Käufer scheint hauptsächlich zu widerstreben, daß die Karosserielinie der 1,1 -Liter-Wagen von BMC stark an Station-Cars und Kombiwagen erinnert. Diese Autos gelten vielfach immer noch als verkappte Lieferwagen. Ihr Besitz, so deuteten die NSU-Werke in Neckarsulm die Käufergefühle, könne den Eindruck entstehen lassen, die Eigentümer hätten »noch nicht jenen Wohlstandsstatus erreicht, den man bei einem richtigen Bundesbürger heute erwarten muß«.
»Solange das Automobil Ausdruck des Prestiges ist«, folgerte NSU, »glauben wir nicht, daß die Station-Car-Form bedeutende Chancen besitzt - eher würde ein Mercedes 600 mit 250-ccm-Goggomobil-Motor ein breites Publikum finden.«
Austin 1100
Opel Kadett
Ford-Limousine (um 1925)
Entwicklung im Karosseriebau: Wieder weg vom Heck?
Fiktiver Opel-Kurzwagen*: Austin macht vor, wie man ein Auto baut
* Entwurf der Automobilzeitschrift »mot«.