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Graphik Unmögliche Figur

Kunstexperten verachten ihn, aber Pop-Adepten und Wissenschaftler begeistern sich für den skurrilen Augentrug: Escher-Graphiken erzielen Boom-Preise.
aus DER SPIEGEL 53/1972

Platt aufs Papier ist ein Heft gezeichnet, platt darauf ein sauber konstruiertes Mosaik aus Reptilien.

Doch eines der Tiere, erklärt der Künstler selbst, »ist es offenbar leid geworden, flach und erstarrt inmitten Seiner Artgenossen zu liegen; also streckt es ein plastisches Bein über den Rand des Heftes hinaus, reißt sich weiter los und begibt sich ins freie Leben«. Das aber reicht nur gerade für eine mühselige Kriecherei -- zurück ins Schemen-Dasein.

In solchen Tragi-comic-strips, penibel in Birnbaumholz gestichelt oder auf Lithographenstein gestrichelt, hat der Niederländer Maurits Cornelis Escher mit Vorliebe Logik und Phantasie gemixt: Wie im Alligator-Puzzle suchte er stets die Bildrealität aus Kontur und Schraffur und die Perspektive ironisch als Illusion vorzuführen.

Die Kunstexperten nahmen es selten beifällig auf. »Seine Drucke strotzen von gräßlicher Virtuosität«, so verriß die »New York Times« ihn noch, nach-

* M.C. Escher: Grafik und Zeichnungen. Heinz Moos Verlag. München; 96 Seiten; 9.80 Mark

dem Escher im vergangenen März 73 jährig gestorben war. Seine befremdlichen graphischen Späße schmähte der Kritiker als »Formspielereien von oft erstaunlicher Gewöhnlichkeit«.

Gewöhnlich oder nicht -- der friesische Sonderling hat damit offenbar einen gegenwärtig vorherrschenden Massengeschmack getroffen.« Boom« meldet der Münchner Verleger Heinz Moos von einem Escher-Paperback. Plötzlich fanden sich für das Druck-Werk, das sich zehn Jahre lang kaum verkaufen ließ, 20 000 Interessenten; Moos senkte jetzt den Preis und will in den kommenden zwölf Monaten weitere 40 000 Exemplare davon ausliefern*.

Ein neuer, aufwendiger Katalog des Escher-Oeuvres war in Holland schon bei Erscheinen vergriffen. Von der US-Ausgabe, 15 Dollar teuer, mußten bereits die zweiten 25 000 Stück aufgelegt werden**. Und amerikanische Galerien handeln neuerdings Eschers Originale. wiewohl er sie meist in unlimitierter Zahl vom Stein oder Holz abgezogen und billig verhökert hatte, zu Preisen bis zu 7500 Dollar.

Zu seinen eigentümlichen Motiven war Escher, der zeitlebens in brav handwerklicher Manier zeichnete, 1936 in Spanien gekommen. Seit er die maurischen Mosaiken der Alhambra von Granada und der Mezquita-Catedral von Córdoba sah, faszinierten ihn mathematisch-figürliche Probleme Spiegeleffekte, Symmetrien, Ornamente und optische Täuschungen.

Schaulustige für die bizarren Wechselbälger der Natur, zu denen seine Gedankenspiele gerieten, fand Escher weitab vom Kunstmarkt. Zwar beschickte er beinahe jährlich Graphik-Ausstellungen und war einmal gar auf der Biennale in Venedig vertreten. Aber »sein Publikum«, konstatierte jüngst die Wissenschaftszeitschrift »Scientific American«, die bereits vor einem Jahrzehnt eine Escher-Graphik als Titelbild verwendete, »wurden die Wissenschaftler«.

1954 arrangierte der Internationale Mathematiker-Kongreß im Amsterdamer Stedelijk Museum eine Escher-Ausstellung. Das Massachusetts Institute of Technology präsentierte die scheinbar leicht durchschaubaren Rätselbilder, ebenso der Computer-Konzern IBM.

Vertreter einer entlegenen wissenschaftlichen Zunft, die Kristallogra-

* Escher-Graphik »Treppauf und treppab«.

** »The world of M. C. Escher«. Harry N. Abrams, New York; 272 Seiten: 15 Dollar.

phen, luden Lischer zu einem ihrer Fachkongresse. »Was ist von größerer Wichtigkeit in der Kristall-Struktur -- das Gitter aus Atomen oder der Raum dazwischen?« sinnierte auch der holländische Physiker Jan de Boer angesichts einer Escher-Zeichnung, auf der Figuren zu Zwischenräumen verschwimmen und Zwischenräume sich wiederum zu Figuren verdichten,

Ebenso erkannten Architekten, Geologen und Chemiker. daß verzwickte Theorien, beispielsweise Symmetrieprobleme, mit Escher-Graphiken anschaulich zu illustrieren seien; rund 70 solcher wissenschaftlichen Veröffentlichungen verzeichnet der Oeuvre-Katalog. Escher-Motive erscheinen iii Schulbüchern (so in Holland. Italien und den USA). Psychologen erläutern damit die Gesetze und Grenzen der optischen Wahrnehmung, und Nobelpreisträger Chen Ning Yang demonstrierte daran sogar Probleme der Quantenmechanik.

Escher war schon ein Greis. der seine aus Farbe und Papier geschaffene Surrealität nur mehr immer wieder vervielfältigen konnte, als ihm neben den fröhlichen Wissenschaftlern noch ein anderes Publikum erwuchs: Seit Pop in Schwang kam, tauchen seine ornamentalen Monstren und geometrischen Fabelwelten auf Postern und T-shirts, auf Rockplatten-Covers und im Beat-Blatt »Rolling Stone« auf. »Newsweek« entdeckte den Eigenbrötler gar als »ersten psychedelischen Künstler«.

Die berühmtesten Motive aber, die wohl am ehesten dazu beitrugen, das international edierte Paperback der Escher-Graphiken auf eine Gesamtauflage von nun fast einer halben Million zu bringen, hat der hintersinnige Friese ein wenig abgekupfert.

Im »British Journal of Psychology« hatte das Forscherpaar L. 5. und R. Penrose 1958 »einen besonderen Typ optischer Täuschungen« beschrieben: »unmögliche Objekte«. Es sind Figuren mit einem trickreich versteckten konstruktiven Fehler. Die in Wahrheit flächigen Bildelemente erwecken im Betrachter eine derart irritierende räumliche Vorstellung, daß jeder Deutungsversuch ihn in unauflösliche quälende Konflikte stürzt.

Aus einer dieser unmöglichen Figuren, dem Trugbild einer Treppe ohne Anfang und Ende, entwickelte Escher ein Schreckensmodell gesellschaftlicher Rituale -- die Brüder eines Konformisten-Ordens steigen darauf ohne Unterlaß gleichzeitig hinauf und hinab: optischer Horror in der Idylle.

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