»Unsere Apparate lügen nicht«
SPIEGEL: Herr Howald, in Ihrem Laboratorium, im Forschungsinstitut der Eidgenössischen Turn- und Sportschule in Magglingen, wurden mehrmals Urine Thuraus auf verbotene Doping-Substanzen analysiert. Hat sich dabei ein Wunder ereignet?
HOWALD: Wieso ein Wunder?
SPIEGEL: Ein Wunder, sagt Meyers Lexikon, ist ein Ereignis, welches den gewöhnlichen Lauf der Dinge durchkreuzt und aufhebt, eine von höheren Wesen bewirkte Durchbrechung der Naturgesetze. Sie haben in ein und demselben Urin Dietrich Thuraus bei der ersten Dopingprobe das verbotene Aufputschmittel Amphetamin gefunden und in der zweiten Analyse nichts mehr.
HOWALD: Das ist kein Wunder, sondern eine Premiere. Bisher war es immer so, daß die erste Urinanalyse und die vom Sportler geforderte zweite Analyse, die Gegenanalyse, das gleiche Ergebnis hatten.
SPIEGEL: Wie erklären Sie diese Premiere?
HOWALD: Unsere erste Analyse haben wir an der Urinprobe 88a vorgenommen, die zweite an der Urinprobe 88b. Beide Proben, jeweils rund 25 Milliliter, hat Thurau am Sonntag, dem 22. Juni, nach den Straßenrennen um die Deutsche Meisterschaft der Berufsradfahrer im West-Schweizer Ort Le Locle abgegeben, und zwar unter Aufsicht eines Renn-Kommissärs und eines Arztes.
SPIEGEL: Thurau hat also, wie es die Dopingvorschriften verlangen, unter Aufsicht in ein Gefäß uriniert.
HOWALD: Ja. Er hat im Abstand von rund 30 Minuten zweimal uriniert. Aber: Es ist erwiesen, daß diese beiden Urinproben nicht identisch sind. Die eine Portion enthält Amphetamin und reichlich Nikotin, die zweite Portion enthält kein Amphetamin und weniger Nikotin. Außerdem unterscheiden sich die beiden Portionen noch durch andere chemische Abweichungen voneinander.
SPIEGEL: Da sind Sie ganz sicher?
HOWALD: Absolut. Die Probe 88a ist am 23. 6. in zwei voneinander unabhängigen Laboratorien, nämlich hier in Magglingen und im Gerichtschemischen Institut Basel, mit drei unterschiedlichen Methoden -- der Dünnschichtchromatographie und der Massenspektrometrie -- analysiert worden. Diese Methoden entdecken winzige Mengen. Die versiegelte und tiefgefrorene Urinprobe 88b haben wir am 2. Juli in Gegenwart deutscher Zeugen, darunter des Dopingspezialisten Professor Manfred Donike aus Köln, geöffnet und analysiert. Und in dieser Probe ließ sich zum Erstaunen aller Beteiligten plötzlich kein verbotenes Dopingmittel, keine Spur von Amphetamin nachweisen.
SPIEGEL: Könnte das zweite Urinfläschchen ausgetauscht worden sein?
HOWALD: Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Der überwachende Doping-Offizielle, ein vereidigter Schweizer, ist über jeden Verdacht erhaben.
SPIEGEL: Hat sich dieser Radsportfunktionär bei der Dopingkontrolle wirklich korrekt an die vorgeschriebene Prozedur gehalten?
HOWALD: Das hat er leider nicht getan. Es war so: Nach der Zieldurchfahrt ist Herr Thurau nicht gleich zur Dopingkontrolle gekommen, sondern hat sich erst mal in sein Hotel begeben. Kurz vor Ablauf der reglementarisch festgesetzten Frist von 60 Minuten hat der Doping-Kommissär nach ihm geschickt und ihn holen lassen. Thurau hat dann 25 Milliliter uriniert, gefordert sind 100 Milliliter. Er war sehr aufgeregt und hat geschimpft, das hätte bisher immer genügt, die Behandlung sei unmenschlich. Man hat ihn aber nicht gehenlassen, sondern ihm etwas zu trinken gegeben.
SPIEGEL: Was?
HOWALD: Bier. Nach einer halben Stunde hat er sich bequemt, nochmal zu urinieren, die zweiten 25 Milliliter. Nach dem Reglement soll die gesamte Harnmenge vermischt und dann erst geteilt werden. Aber das ist nicht geschehen.
SPIEGEL: Hätte, wenn so verfahren worden wäre, die Gegenanalyse das S.176 gleiche dopingpositive Ergebnis erbracht?
HOWALD: Mit Sicherheit.
SPIEGEL: Probe 88a war die erste Harnportion, Probe 88b die zweite?
HOWALD: Leider läßt sich das nicht mehr feststellen. Ich weiß es nicht, niemand weiß es.
SPIEGEL: Ob Thurau zuerst einen amphetaminhaltigen oder zuerst einen amphetaminfreien Harn gelassen hat, wird sich also nicht mehr klären lassen.
HOWALD: Nein, sicher ist nur, daß es zwei verschiedene Urine sind, in Abstand von 30 Minuten gelassen aus der gleichen Blase. Das zeigt, daß betrogen worden ist.
SPIEGEL: Es wäre also auch möglich, daß Thuraus eigener Urin amphetaminfrei war, der Fremdurin dagegen amphetaminhaltig?
HOWALD: Ja.
SPIEGEL: Also doch, wie Thurau vermutet hat, ein Komplott?
HOWALD: Das ist kaum anzunehmen. Denn an den unsauberen Machenschaften muß er selbst beteiligt sein. Der Urin lief ja aus seiner eigenen Blase.
SPIEGEL: Wie kommt das Nikotin in Thuraus Urin? Er ist doch Nichtraucher.
HOWALD: In allen Urinproben, die wir von ihm analysiert haben -- und zwar, ohne daß wir vorher wußten, um wen es sich handelt, denn die Urinproben haben allesamt nur Codenummern --, hat sich reichlich Nikotin gefunden. Im menschlichen Stoffwechsel entsteht das nicht, rauchen tut er nicht.
SPIEGEL: Also?
HOWALD: Entweder Fremdurin eines starken Rauchers ...
SPIEGEL: ... oder?
HOWALD: Es gibt auch Lutschtabletten, die reines Nikotin enthalten. Man gibt sie Leuten, die sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Denen wird dann schlecht, wenn sie gleichzeitig lutschen und rauchen. Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Rennfahrer solche Tabletten nimmt. Nikotin ist ja sehr giftig.
SPIEGEL: Es ist eine stimulierende Substanz.
HOWALD: Aber die Dosierung wäre sehr heiß, sehr kritisch. Es ist ja auch immer so, daß solche Dinge in diesen Kreisen sehr rasch bekannt werden. Und wir haben in zehn Jahren bei keinem anderen Radrennfahrer jemals Nikotin im Urin nachgewiesen.
SPIEGEL: Zweifeln Sie angesichts so vieler Rätsel an Ihren Dopingkontrollen?
HOWALD: Unsere Apparate lügen nicht. Ich habe nichts gegen den Radsport, nichts gegen Dietrich Thurau, den ich persönlich ja gar nicht kenne. Ich bin nur für die Sauberkeit im Sport. Der Fall Thurau zeigt jedoch, daß bei den im Radsport üblichen Gewohnheiten im Zusammenhang mit den Urinentnahmen unsaubere Machenschaften möglich sind, welche eine noch so saubere und aufwendige Laboranalytik zur Farce werden lassen.
SPIEGEL: Was sollte an der Prozedur geändert werden?
HOWALD: Ich würde vorschlagen, daß die Herren nach der Zieldurchfahrt nicht erst ins Hotel verschwinden dürfen.