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Unterricht mit Nägeln und Nudelrollen

Blockflöten und Schlagwerk haben bislang die Musikerziehung des deutschen Kindes bestimmt -- mit negativem Ergebnis: Die Phantasie stumpfte ab, von Musik wollten die Kinder bald nichts mehr wissen. In Bonn wurden jetzt »Klangerzeuger« ausprobiert, mit denen die Musizierfreude bei Vorschulkindern gesteigert werden soll.
aus DER SPIEGEL 52/1971

Die Instrumente waren ungewohnt, die Klänge fremdartig: Flopp, flapp, krrk, bling, peng, zatsch, sssettt, raktaktaktaktak. Die Premiere fand im Kindergarten statt: 70 rheinische Knirpse aus dem Bonner Vorort Ippendorf durften erstmals mit neuem akustischem Spielzeug hantieren.

Sie kurbelten unermüdlich an einer »Drehwalze«, drückten Kupferlamellen, Drahtbürsten und Metallraspeln auf die rotierende Blechtrommel und erzeugten so Säge-, Schrapp- und Knirschlaute. Sie sangen, heulten und meckerten durch dicke Plastikschläuche in den Sammeltrichter eines go-cart-großen »Blaswagens«, der sich wie ein altertümlicher Staubsauger über den Boden ziehen ließ und dabei wie ein Super-Megaphon röhrte und schepperte. Sie ließen in einem auf alten Sofafedern schaukelnden »akustischen Flipper« massive Stahlkugeln über Filzstreifen und Schmirgelpapier, gegen Nägel, Kupferröhren und Keramikplättchen rollen.

»Das gab alles einen ganz schönen Krach«, erinnert sich die Ippendorfer Kindergartenleiterin Helma Adler, »aber das Getöse hat den Kindern sehr viel Spaß gemacht.«

Es war ein Spiel ohne Regeln, ohne Aufsicht, ohne Fehler. Niemand scherte sich um Dur und Moll, um Kammerton oder Dreiklang. Denn die neuartigen »Klangerzeuger«. die der Kölner Komponist Mauricio Kagel ("Staatstheater") zum Abschluß der diesjährigen »Kölner Kurse für Neue Musik« im Kindergarten ausprobieren und in der Bonner Beethovenhalle vor 250 Musikpädagogen demonstrieren ließ, sollen den Vorschulkindern die »Vordressur durch Musikpädagogen« (Kagel) ersparen und ihnen wieder Freude an der Musik bringen. Kagel: »Wir brauchen Instrumente, die Kinder animieren.«

Zu Beginn der mehrwöchigen Kompositionskurse hatte Kursusleiter Kagel die 25 Teilnehmer, meist junge Komponisten und Nachwuchs-Pädagogen, um Entwürfe für neues Musik-Spielzeug gebeten. Bedingung: einfache Konstruktion, billige Herstellung, robuste Mechanik, vielseitiger Gebrauch.

Eine Woche lang skizzierten die Kagel-Schüler insgesamt 35 Projekte, die dann in der Werkstatt des WDR-Fernsehens und mit Geldern des Westdeutschen Rundfunks hergestellt wurden: Nudelrollen, die mit Saugpfropfen aus Weichgummi gespickt waren, eine »Achselgeige« aus Zigarrenkistenholz und dünnem Draht, gebündelte Bongos aus Papp- und Plastikröhren, eine Wurfbude, in die Holz- und Styropor-Kugeln geworfen werden, sogar ein komplettes kleines Holzhaus mit Fenstern und Türen, Klingelknopf, Sprechanlage und elektrischem Licht.

»Wir sind dazu verpflichtet«, erläuterte Kagel die »sehr unorthodoxen Instrumente«, »dasselbe zu tun, was die Spielzeug-Industrie schon lange macht: die Erweiterung der Spielfähigkeit des Kindes«. Nur so, glaubt er, könne das deutsche Kind endlich »dem Kommando der akustischen Unteroffiziere entzogen« werden, die in der Musikpädagogik noch immer den Ton angeben.

Es ist der feine, reine Ton bürgerlicher Musikkultur: Er wird im Kindergarten angestimmt und in den Volksschulen mit ihren unsäglich qualvollen Blockflötenkursen gelehrt.

Zwar fördert musikalische Früherziehung. wie beispielsweise der Hamburger Psychologe Reinhard Tausch lehrt, »die seelische Entwicklung der Kinder und steigert ihre Leistung«. Aber in dem eintönigen, mit Theorie überfrachteten Unterricht, der jeden Lärm und jede individuelle Experimentierlust verpönt, in dem Harmonie, Notenlesen und perfekter Rhythmus oberste Gebote sind, wird den Kindern das Musikmachen meist schnell und gründlich verleidet.

Nur kurze Zeit, das lehrt die Erfahrung kritischer Musikerzieher, beschäftigen sich Kinder in aller Regel mit den Instrumenten, die ihnen phantasielose Erwachsene in die Hände drücken. Sie streichen und blasen ein paar Hirten-, Wander- oder Weihnachtslieder -- dann sind die Spielmöglichkeiten auf den wohltemperierten Instrumenten aus industrieller Massenfertigung erschöpft, die kindliche Phantasie gleichfalls.

Bestes Beispiel für solch pädagogische Fehlplanung ist das »Schulwerk« des bayrischen Komponisten Carl Orff ("Carmina burana"). Seit 1930 versucht Orff, mit Glöckchen, Flöten, Pauken, Trommeln und allerlei exotischem Schlagkram die »schöpferische Kraft« (Orff) des Kindes zu wecken. Aber statt dessen erschlägt er sie in einem tristen Tamtam aus konsonanten Klängen und pädagogischem Hämmern -- Note für Note nach einem mittlerweile fünfbändigen Lehrwerk, das den Schülern auch den letzten Rest an spieltechnischer Lust und musikantischer Laune austreibt.

»Um Gottes willen kein Kagel-Schulwerk«, fordert denn auch Kagel, der mit seinen Klangerzeugern nur Anregungen zum Bau neuer Instrumente liefern, aber keinerlei musikpädagogische Elementarlehre verbreiten oder gar die Aleatorik im Kindergarten einführen möchte.

Kagel will einfach weg von den stereotypen Schlaginstrumenten, auf denen sich inzwischen, wie Kagel meint, »90 Prozent aller Kinder zu schaffen machen«, beim »Schulwerk« oder überhaupt. Er will weg vom strengen Unterricht ("Es wird zuviel Pädagogik getrieben") und hin zu einer freien »Aktivität im Raum«, zu persönlicher »Bestätigung«, mit der die »Wahrnehmungs- und Hörsensibilisierung für komplexe Vorgänge« gesteigert werden soll. Kurz: Das Kind soll spielend hören und verstehen lernen, wie Töne und Geräusche zustande kommen, wie sie sich verändern und zueinander verhalten.

Diese neuartige Harmonielehre und das ungewöhnliche Instrumentarium wird Kagel im olympischen Kindergarten in München erstmals auch einem internationalen Publikum vorführen können. Doch noch vorher hofft er auf weitere Verbreitung: Sämtliche Konstruktionspläne seiner Klangerzeuger stehen Kindergärten und Musikpädagogen zum Nachbau zur Verfügung -- gegen Kostenerstattung für die Blaupausen.

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