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BÜCHER Vater fehlt

Zwei Professoren warnen vor Klassenkampf und Chaos, Verweichlichung und Gleichmacherei. Ihre Bücher -- Mischungen aus Moral und Wissenschaft -- erweisen sich als publizistische Erfolge.
aus DER SPIEGEL 15/1973

Der eine -- der Physiker. Ingenieur Gesellschaftskritik. sie habe »das Denkmodell »Hierarchie'« diffamiert, obwohl jeder Sachverständige wisse, »daß arbeitsteilige Strukturen nicht anders als hierarchisch aufgebaut werden können«. Lorenz meint, der heutigen Jugend fehle eine Vaterfigur, und hält es für »eines der größten Verbrechen der pseudodemokratischen Doktrin. das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei Menschen« zu leugnen.

Zwei Naturwissenschaftler publizierten Bücher mit stark ethisch-politischem Pathos -- Steinbuch unter dem imperativen Titel »Kurskorrektur«. Lorenz unter dem nicht minder emphatischen: »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit"*. Steinbuch leitet sein Buch mit einem Appell an die »schweigende Mehrheit« ein, sich »nicht länger für dumm verkaufen (zu)

* Karl Steinbuch: .Kurskorrektur. Seewald Verlug, Stuttgart: 168 Seiten: 24 Mark -- Konrad Lorenz: »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Piper Verlag. München: 112 Seiten: 6 Mark.

lassen«, sondern »sich endlich zu stellen«. Lorenz nennt sein Buch »eine an die ganze Menschheit gerichtete Aufforderung zu Reue und Umkehr«.

Beide Naturwissenschaftler wettern zwar auch gegen den »unkontrollierten Kapitalismus« (Steinbuch) und die »mitleidlose Konkurrenz« der Wettbewerbsgesellschaft (Lorenz), noch mehr aber gegen die Linken und gegen Traditionsverlust und Systemüberwindung. Diese Vorstellungen hätten »nur mehr Klassenkampf und mehr Haß« gebracht und »zunehmendes Chaos« (Steinbuch) -- oder, so Lorenz, eine »maßlose Rebellion der Jugend« und die »Zerrform einer liberalen Demokratie«.

Beide Autoren argumentieren wissenschaftlich -- Steinbuch in den Kategorien einer »kybernetischen Anthropologie«. Lorenz mit Begriffen aus der Biologie -, aber beiden geht es vornehmlich um Moral und um Politik. Der Physiker Steinbuch möchte einen »Minimalkanon der Normen unseres Zusammenlebens« entwerfen, der Zoologe Lorenz versteht sich selbst als Nachfolger des wortgewaltigen Augustiner-Barfüßers und Bußpredigers Abraham a Santa Clara.

Die Kombination von Wissenschaft, Politik und Moral, charakteristisch für beide Autoren, scheint gefragt zu sein. Steinbuchs »Kurskorrektur' figuriert seit Wochen auf der Bestseller-Liste des SPIEGEL. Von Lorenz' »Acht Todsünden« -- als Taschenbuch in dem Bestseller-Katalog nicht erfaßt -- werden laut Auskunft des Verlages seit Erscheinen pro Tag 1000 Stück verkauft.

Offenkundig ersetzt die moralisierende Wissenschaft Positionen, die von den traditionellen Moralwächtern geräumt worden sind. Die Kirchen haben -- nach einem bösen Wort von Arnold Gehlen -- »abgeschnallt«. Dem Staat wird vorgeworfen, er führe nicht mehr. Steinbuch: »Der Staat muß uns wieder etwas sagen.«

Indes, das Moralisieren führt die beiden Wissenschaftler in eine verzwickte Position zwischen den Fronten, zwischen konservativ und progressiv. Einerseits sympathisieren sie mit dem Moralismus der Jugend, andererseits lehnen sie die utopischen Inhalte dieses Moralismus ab: Moral ja, aber Tradition und Realität, ob biologisch oder arbeitsorganisatorisch. sollen berücksichtigt werden. So kommt es bei beiden zu Widersprüchen.

Das biblische Gebot »Mehret euch und macht euch die Erde untertan« ist sowohl für Steinbuch als auch für Lorenz heute »unverantwortlich«. Steinbuch möchte gar das »Seid untertan der Obrigkeit« ersetzen durch: »Kontrolliert die Regierungen und leistet rechtzeitig Widerstand.« Lorenz bescheinigt der Jugend ausdrücklich »ungemein richtiges Empfinden« für soziale und moralische Werte.

Doch beklagt Lorenz, ebenso wie Steinbuch, die »fortschreitende Infantilisierung« der Gesellschaft. Und Steinbuch verhöhnt -- trotz seines Aufrufs zu »rechtzeitigem Widerstand« -- die Demokratisierung von Schulen und Universitäten: »Kinder' die zu den einfachsten Verrichtungen erkennbaren Nutzens unfähig sind, durchschauen den Sinn der Geschichte.«

Beiden Autoren fällt auch schwer, zu den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft widerspruchsfrei Stellung zu beziehen. Zwar bedauert Steinbuch, daß das Wirtschaftswunder die Interessen nur »vordergründig absorbiert« habe, zwar warnt er davor, daß der unkontrollierte technische Fortschritt zur »Systemzerstörung« führen werde und daß Wirtschaft für viele Manager nur »Selbstzweck« darstelle. Zwar beklagt auch Lorenz die »verblendende Geldgier« des modernen Menschen und beschuldigt den »Wettbewerb«, daß er aus »wertblinden, kommerziellen Erwägungen« -- »mit kalter Teufelsfaust« -- »so ziemlich alle Werte« zerstöre, daß er, »in blinder und vandalischer Weise«, den »ökologischen Ruin« des Erdballs heraufführe.

Doch verlangen beide Autoren andererseits die Wiederherstellung des Verständnisses für Leistung und Recht und das Lernen aus »biologisch und historisch gewachsenen Organisationsformen«.

Offenkundig fällt es den beiden Autoren leichter, das zu definieren, was sie für »böse« halten, als das, was nach ihrer Meinung »gut' ist. Wie immer, der Teufel läßt sich besser beschreiben als Gott.

So mangelt es denn auch nicht den beiden Autoren -- ebensowenig wie den von ihnen kritisierten jungen Linken -- an grobianischem Barock-Deutsch. Lorenz beschuldigt die Menschheit »ethischer Verrohung« und nennt ihre Städte »bösartige Tumore«. Dem modernen Film wirft er vor, er predige »Sofort-Begattung« -- ein Vorgang. für den ihm das Wort »tierisch« noch zu gut ist. Die Geschichte sei

»Teufelsschwingungen« unterworfen. und demnächst seien »satanische Wirkungen« zu erwarten. Kaum könne man der Ansicht widersprechen. »der Antichrist sei los«.

Gezielter sind Steinbuchs Satan-Vorstellungen. Sie betreffen Presse, Fernsehen und Universitäten. »Irre und Tollhäuser«, meint er. »gab es schon früher, aber neu in unserer Zeit ist, daß der Irrsinn akademisch geweiht wird und die Tollheit über unzählige Kanäle in Millionen Köpfe fließt. Die Jugend werde »hemmungslos vergiftet«, und die »psychosoziale Vergiftung« wirke vor allem durch die »Diffamierung« von »Gemeinsinn, Leistungsprinzip, Verantwortungsbewußtsein. Rauschgiftabstinenz und auch funktionierender politischer Strukturen«. Zwar bestreitet Steinbuch nachdrücklich. daß er für eine Zensur der Massenmedien sei, doch meint er. es solle »jenseits aller juristischen Kontrollen auch moralische Hemmungen geben«.

Weniger vollständig sind die Bemerkungen bei beiden Autoren über das »Gute«. Steinbuchs moralischer Minimalkanon endet mit der zwar an Marx anklingenden, aber sonst dürftigen Forderung: »Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie menschlicher zu machen.« Lorenz propagiert. noch wortkarger. das »wahrhaft Große und Schöne.

Indes, sehr viel beredsamer war in diesem Punkte Karl Marx auch nicht. Das Gute hieß bei ihm lapidar »Reich der Freiheit«.

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