Samira El Ouassil

Eltern und Kinder Der Blick meines Vaters

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Mein Vater wird mich, seine Tochter, niemals verstehen können, selbst wenn er es versucht. Und andersherum werde ich sein Vatersein nie durchdringen können. Aber das ist nicht schlimm.

Tetiana Garkusha / iStockphoto / Getty

Die 55 Jahre alte ehemalige Modechefin der französischen »Elle«, die Journalistin Sophie Fontanel, hat von einem Tag auf den anderen beschlossen, ihre Haare nicht mehr zu färben und ihren weißen Ansatz herauswachsen zu lassen. Natürlich hat sie darüber ein Buch geschrieben, natürlich wurde es ein Bestseller. »Une apparition« hieß es, »Eine Erscheinung« – und es hat geschafft, dass ich mich mit meinem Kopf versöhnt habe.

Ich färbe meine weißen Haare, seit ich einundzwanzig bin. Ende zwanzig war ich komplett ergraut. Anfangs romantisierte ich das als eine Art existenzielle Fotosynthese: In meiner jugendlichen Wahrnehmung erschien mir die kalte Wirklichkeit da draußen wie ein immerwährender Herbst; da blieb meinem Kopf ja nichts anderes übrig, als alle Pigmente aus meinem schwarz glänzenden Blätterkranz abzuziehen, um graue, stumpfe Strähnen zurückzulassen.

Als sich pandemiebedingt mein schneeweißer Ansatz abzeichnete, beklagte sich überraschenderweise vor allem mein Vater mehr als entrüstet über meine George-Clooney-Schläfen. Anfangs fand ich das ungewohnt paternalistisch und auch ein bisschen kränkend. Ich fühlte mich ungeliebt für etwas, wofür ich nichts konnte. Im Gegenteil: Es sind ja seine Gene, die mir die haarige Frühvergreisung bescherten. Doch dann begriff ich: Der Anblick seiner Tochter mit weißen Haaren lässt ihn sich augenblicklich viel älter fühlen. Mein Kopf spiegelte ihm seine eigene Vergänglichkeit.

In dem Moment wurden mir auch etwas anderes klar: Ich werde meinen Vater und seinen Blick auf mich nie wirklich nachvollziehen und nachfühlen können. Selbst wenn ich mal eine eigene Tochter haben sollte, werde ich nicht wissen, wie ein Vater auf mich schaut. Ebenso wird er höchstwahrscheinlich meinen Blick auf sich schwer nachempfinden können, denn auch er kann ja nicht mit dem Blick einer Tochter auf seinen eigenen Vater schauen. Das ist natürlich einigermaßen banal, aber dann doch auch wieder nicht, weil es die Dynamiken, die Friktionen der Familie, die wir zwangsläufig haben und warmherzig pflegen, eine gewisse Unauflöslichkeit gibt. Und plötzlich war da die melancholische Befürchtung: Mein Vater wird mich, seine Tochter, niemals verstehen können, selbst wenn er es versucht. Und andersherum werde ich sein Vatersein nie durchdringen können.

Wie erträgt man das Wissen darüber, sich nie wirklich verstehen zu können? Die Antwort ist Liebe.

Das Verständnis um genau dieses Unverständnis zwischen Vater und Tochter macht aber genau einen Teil der Vaterrolle aus. Er wird nicht allein durch Verwandtschaft, Biologie oder auf dem Papier zu der Person, die für mich Vater ist, sondern vor allem in der Bereitschaft und im Willen diese liebevolle Dynamik der unterschiedlichen Wahrnehmungen immer wieder beherzt einzugehen. Es gibt viele Dinge, die wir anders sehen, Themen auf die wir naturgemäß, qua Sozialisierung und Alter anders blicken. Aber im Dissens sehe ich auch, wie wir uns spiegeln, dass ich mich in ihm erkenne und er sich ihn mir sieht und wir uns gegenseitig dabei zuschauen, wie dieses Rollenspiel uns zu Vater und Tochter macht.

In seinem anmutigen Essay »Väter der Zukunft« beschreibt der Philosoph Björn Vedder das folgendermaßen:

»Der Vater ist also auch aus dieser Perspektive vor allem eine Rolle oder ein Amt. Es entsteht dadurch, dass ich auf bestimmte Weise angesehen und angesprochen werde und darauf in bestimmter Weise antworte.«

Deshalb, so Vedder, könne man dieses Amt aber auch nicht einfach so ergreifen und sich selbst zum Vater machen, »wie die Römer dachten, die davon ausgingen, dass derjenige Vater sei, der sich zum Vater eines Kindes erkläre und es als das seine annehme, also adoptiere.« (Siehe dazu beispielsweise die international erfolgreiche Netflix-Serie »Barbaren«.)

Nein, diese Adoption müsse von beiden Seiten erfolgen: »Vater-sein und Kind-sein ist das Ergebnis eines wechselseitigen Ansehens- und Antwortens-als. Vater sein, Mutter sein, Kind sein, das sind Rollen, die wir spielen, für uns und für die anderen. Das Familienleben ist ein Theaterstück und unser Schauspiel dient dazu, ›eine bestimmte Situation zu stützen, sozusagen eine Sicht der Realität‹ zu etablieren, wie der Soziologe Erving Goffman sagt.«

Vedder vertritt als Philosoph die These, dass, eben weil die Vaterschaft auch performativ erfolgt, es heute an einer modernen Vaterrolle fehle, die nicht an tradierte, patriarchale Ideen gebunden ist und den Vater traditionell als Oberhaupt, Vertreter der Ordnung und Über-Ich einer Familie denkt, wie es aus historischen, soziologischen ökonomischen Gründen lange der Fall war. In seinen Überlegungen koppelt er die Vaterrolle übrigens nicht zwingend an ein Geschlecht, sondern es geht tatsächlich um die Position eines zweiten Elternteils, welches sich komplementär zur Mutter verhält, die ebenfalls nicht an ein Geschlecht gebunden ist. Es sind tatsächlich – Rollen.

In seinem Essay wird das Vatersein vom Ende her gedacht – und gerade das brachte mir die Perspektive meines Vaters näher, die ich früher so schwer einnehmen konnte. In Vedders Plädoyer für moderne Vaterfiguren werden diese »furchtlose Gesellen. Sie laufen vor bis zum Tode und blicken von dort gelassen zurück. Sie sitzen mit ihren Kindern am Fluss und schauen zu, wie alles vergeht. So lehren sie diese, die einzelnen Vollzüge ihrer Handlungen zu übersteigen und das Leben als Ganzes zu begreifen. Sie unterstützen sie dabei, eine Ordnung ihres Herzens auszubilden und sich selbst ernst zu nehmen.«

Als ich das las, empfand ich, dass dies meine Antwort auf die scheinbaren Unversöhnlichkeiten der Eltern-Kind-Perspektiven sein könnte. Wenn man aus familiärer Zugewandtheit diese Reibung gestattet und zulässt, vielleicht sogar sucht, weil sich doch in ebendieser erst das Vater-Kind-Verhältnis manifestiert, entsteht auch bei jeder Reibung: Wärme. Wie erträgt man also das Wissen darüber, sich nie wirklich verstehen zu können? Die Antwort ist Liebe. Ein Vater kann vielleicht seine Tochter nicht verstehen, selbst wenn er es will, aber dass er das mit dem Wissen um das konstellationsbedingte Scheitern trotzdem immer wieder versucht, macht ihn in der Entschlossenheit und Unermüdlichkeit zu einem Elternteil gewordenen Liebe.

Ich färbe meine Haare übrigens nach wie vor mindestens alle drei Wochen. Weil ich keinen ewigen Herbst auf meinem Kopf ertrage und mich mit dunklem Haar besser leiden kann. Und mein Vater sich sicherlich auch.

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