THEATER Verdorrtes Herz
Altenheimbewohner in Berlin-Buckow fühlten sich gestört. Weil aus der Kirche nebenan bis spät in die Nacht erregte Wortwechsel, harte Beat-Rhythmen und kriegerische Gesänge tönten, beklagten sie sich beim Pfarrer.
Grund des Lärms und der Beschwerde: Im Gotteshaus, der evangelischen Dreieinigkeitskirche in der Lipschitzallee, wird seit einigen Wochen ein Theaterstück geprobt. Der US-Autor George Tabori, 57 ("Kannibalen"). inszeniert dort sein jüngstes Werk »Pinkville« -- eine »Totenmesse für die Opfer von My Lai«. Ende dieser Woche soll das theatralische Requiem seine europäische Premiere haben.
»Pinkville«, so hieß verschlüsselt das Gebiet um jenes vietnamesische Dorf, in dem US-Soldaten unter dem Kommando des Oberleutnants Calley 1968 über 100 Frauen, Kinder und Greise massakrierten. Eine Messe aber, sagt Tabori, »ist schließlich nichts anderes als eine Mordgeschichte mit Musik und bekannten Zitaten«.
Dieses Thema hatte Tabori gefunden, als er My-Lai-Photos in der Zeitschrift »Life« betrachtete: Er erschrak darüber, daß er »mehr Bewunderung für die Qualität der Aufnahmen« verspürte als »Entsetzen über die gezeigten Greuel« -- Sein Schrecken drängte ihm Fragen auf, Fragen »nach dem Grund des Bösen«.
»Ich gab ihnen einen guten Jungen, und sie haben aus ihm einen Mörder gemacht«, hatte die Mutter des am Gemetzel beteiligten Soldaten Paul Meadlo geklagt. Tabori will nun, ähnlich wie sein Vorbild Brecht (in »Mann ist Mann"), zeigen, daß Drill den Mann zur willenlosen Kampfmaschine »ummontieren« kann.
Das geht ganz einfach, demonstriert Tabori in zwölf »Lektionen«. Es geht mit Zynismus, Brutalität und der Ausbildungsordnung jener US-Marinesoldaten, die sich gern als »beste Kampf- -- Organisation der Welt« bezeichnen.
Nach diesem Reglement wird Taboris Held, ein Jerry O'Carey, gedemütigt, geprügelt, eingesperrt, verhöhnt; er desertiert, er versucht sich umzubringen, erliegt am Ende doch der Seelen- und Gehirnwäsche sadistischer Driller und gibt den Befehl: »Nichts darf übrigbleiben, was lebt!«
Für seine »Lektionen«, die durch Songs in der Art von Brecht verbunden werden, hat Tabori Material aus Dienstvorschriften, Ausbildungs-Reports aus dem Calley-Prozeß und GI-Underground-Zeitschriften ausgewertet. Das Resultat: eine grausige Groteske über die Obszönitäten des Krieges.
Oberleutnant Calley allerdings, der sich den Text frühzeitig verschafft hatte. muß das wohl mißverstanden haben. Er bewarb sich -- vergebens -- bei Tabori um eine Rolle in der Uraufführung. Als das Lehrstück dann im März dieses Jahres in New York auf die Bühne gekommen war, registrierte die »Neue Zürcher Zeitung« »antiamerikanisches Polittheater«.
Doch der Stückeschreiber, ein jüdischer Emigrant aus Ungarn. hatte »weder politische Denunziation noch ein historisches Dokument« im Sinn. »Mein Stück«, so moralisiert er, »richtet sich gegen die allgemeine Apathie. gegen das verdorrte Herz.«
In Berlin, wo Tabori seit kurzem als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes lebt, hat »Pinkville« schon vor der Premiere falsche, politische Reaktionen hervorgerufen:
Der Plan, das Stück vom Schiller-Theater zu den Festwochen spielen zu lassen, wurde verworfen, als der Vertreter des Bundes im Festspielkuratorium, Staatssekretär Wolfram Dorn, aus der »Pinkville«-Kritik der »NZZ« zitierte. Nun entdeckte auch das Schiller-Theater, das die Inszenierung ursprünglich schon für die vergangene Saison angekündigt hatte, entscheidende Termin- und Besetzungsschwierigkeiten.
Unterstützung fand Tabori statt dessen bei den freien Theaterproduzenten Wilmar Guertler und Ottokar Runze, die für eine »Pinkville«-Inszenierung 50 000 Mark bereitstellten. Gemeinsam machten sie die erst kürzlich geweihte Buckower Kirche als -- mietfreien -- Spielplatz ausfindig und engagierten 13 Schauspielschüler aus dem Reinhardt-Seminar sowie, als Soldatenmutter, die Jazz-Vokalistin Inge Brandenburg.
Die Darsteller, an die 50 Prozent der Einnahme verteilt werden sollen, müssen gleichzeitig Beleuchter, Tonmeister, Requisiteure, Bühnenarbeiter und Putzfrauen ersetzen. Sie mußten sich auch mit einem ungewohnten Regiestil abfinden: Nach Exerzitien in Meditation und Gruppentherapie forderte Tabori Spiel-Improvisationen, und immer wieder warf er um, was schon fest arrangiert schien. Auch seinen Text hat Tabori in den letzten Wochen »mindestens sechsmal« umgeschrieben.
Die Proben hält Tabori öffentlich ab. Häufige Gäste: die Nachbarn aus dem Altenheim, mit denen das Ensemble mittlerweile Frieden geschlossen hat. Auch eine weitere Beschwerde hat sich nun erledigt: Das Berliner »Pinkville«-Plakat, das eine Kreuzigung in Schnittbogen-Manier zeigt, war einem anonymen Berliner eine Anzeige wegen Gotteslästerung wert gewesen. Letzte Woche wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt.