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FERNSEHEN / "SESAME STREET" Vergebene Chance

aus DER SPIEGEL 19/1971

Die Sendereihe ist »von hohem pädagogischem Wert«. Sie ist »erstklassig zusammengestellt«, »ein Segen für die Kinder«, »eine Chance für das Fernsehen« oder einfach »das beste Kinderprogramm« das ich im deutschen Fernsehen gesehen habe«.

Diese Urteile gelten der amerikanischen Vorschul-Serie »Sesame Street«, deren Wirkung auf deutsche Zuschauer NDR III in der Woche vor Ostern erstmals getestet hat. Nach jeder der fünf einstündigen Sendungen wurden die Fernseher von einem Sprecher ermuntert, Kritik und Anregungen einzusenden (SPIEGEL 15/1971).

Fast alle Briefschreiber aus dem Sendebereich der sogenannten Nordkette -- NDR, RB, SFB -- forderten, die Serie »anzukaufen und synchronisiert regelmäßig auszustrahlen« (Susanne Busse aus Berlin). »Ich kann«, schrieb der Hamburger Ingenieur Dieter Gerhardt, »nicht mehr unternehmen, als Sie tausendmal zu bitten, diese Vorschul-Filme zu senden.«

Das positive Votum der Zuschauer freilich, so scheint es, wird nichts nützen. Zwar werden die anderen Dritten Programme -- außer Bayern -- in diesem Monat die fünf »Sesame Street«-Teststunden aus Hamburg übernehmen; danach aber sollen die berühmten Stoffpuppen Ernie und Cookie, der täppische Vogel »Big Bird« und die vielen kleinen und großen Bewohner der Sesam-Straße in den ARD-Programmen nicht mehr zu sehen sein.

So jedenfalls haben es die Programmdirektoren am vorletzten Mittwoch in Bremen beschlossen. Die bunte Show aus Cartoons, Slapstick-Szenen und Zeichentrickfilm, diese »Genesis eines neuen Bildungskonzepts« ("Christian Science Monitor"), war den Herren, denen sonst keine Show und kein Krimi aufwendig genug sein kann, zu teuer. Und das, obgleich das Bonner Wissenschaftsministerium, die Bundeszentrale für politische Bildung und private Stiftungen bereits angeboten hatten, die Mammutreihe -- 260 Folgen sollen etwa sechs Millionen Mark für Lizenz und Bearbeitung kosten -- zu subventionieren.

Vor allem aber empfanden die deutschen TV-Chefs das Vorschul-Programm, das besonders unterprivilegierte Kinder in US-Gettos bilden soll, als »zu amerikanisch«. In Deutschland, behauptete der Fernseh-Direktor des Bayerischen Rundfunks, Helmut Oeler, gebe es »gar keine unterprivilegierten Schichten«; und mit den »in der Sendung auftretenden Negern« könnten sich die deutschen Kleinkinder »nicht identifizieren

Noch stärkere Bedenken hatte der ARD-Koordinator Lothar Hartmann: Er bezweifelte, daß »die Reihe überhaupt für Kinder geeignet ist. Hans Joachim Lange (SWF) und Karl Schnelting (SR) befürchten, »Sesame Street, werde die Bemühungen der ARD um ein eigenes Vorschul-Programm »auf Jahre blockieren«. Allerdings ist ein solches Programm nirgendwo in Sicht. Sendungen wie die »Spielschule« des Münchner und die »Kwatschnich« -Serie des Berliner Senders (die im Sommer fortgesetzt werden soll), bieten allenfalls zaghafte Ansätze einer pädagogisch fundierten Vorschulerziehung im Fernsehen,

Jeder »Sesame Street«-Sketch wird dagegen von Pädagogen und Psychologen vor der Sendung intensiv getestet, seine Wirkung von Umfrage-Instituten in allen Teilen der USA minuziös erforscht. »Wer behauptet«, sagt Karl-Heinz Grossmann, Leiter des NDR-Bildungsprogramms, »daß wir früher als in drei bis vier Jahren eine »Sesame Street' vergleichbare Reihe entwickeln könnten, ist entweder ein Ignorant, oder er lügt.«

Wenn die ARD-Intendanten, die am 11. und 12. Mai in Baden-Baden den Beschluß ihrer Direktoren noch einmal überprüfen wollen, die Reihe ebenfalls ablehnen, hat das ZDF eine Chance, das Programm zu senden. Schon lange nämlich bemühen sich die Mainzer, die ihre Popularität weitgehend Serien-Einkäufen aus den USA verdanken ("Lassie«, »Flipper«, »Bonanza"), der ARD die »Sesame Street«-Show zu stehlen. Bereits im Juni letzten Jahres verbreitete der für robuste Geschäftspraktiken bekannte Film-Lieferant des ZDF, die Münchner »Beta«, die Meldung, er habe beim New Yorker »Children's Television Workshop« eine Option erworben.

Ein halbes Jahr später versuchte der New Yorker »Beta«-Bevollmächtigte Klaus Hallig, diese angebliche Option gegen ein Gebot von 1,8 Millionen Mark einzuhandeln. Hallig habe dabei, so ein CTW-Sprecher, fälschlich erklärt, die Stiftung Volkswagenwerk sei bereit, »Sesame Street« mitzufinanzieren, aber nur dann, wenn das ZDF den Zuschlag bekäme. Und am 25. März dieses Jahres beschwerte sich der ZDF-Programmdirektor Joseph Viehöver fernschriftlich bei der ARD, seine Verhandlungen in Amerika seien »durch das Dazwischentreten des NDR« gestört worden, obgleich doch der Hamburger Sender schon seit Dezember 1909 mit den Amerikanern verhandelte.

Diese Taktik gefiel dem »Children's Television Workshop« nicht. Die New Yorker überließen ihr pädagogisch vorbildliches Kinderprogramm dem »qualifiziertesten Bewerber« (CTW-Vizepräsident Michael Dann): der Erziehungsredaktion des NDR.

Doch weil die »Sesame Street«-Produzen en ihre Serie ja verkaufen müssen, wäre ihnen zur Not auch das Zweite Deutsche Fernsehen genehm.

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