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LITERATUR Verknittertes Schicksal

aus DER SPIEGEL 20/1999

An dem Tag, als die Eltern des kleinen DeFoe Russet bei einem Zeppelinabsturz starben, brachte ihm die Geliebte seines Onkels das Bügeln bei. Inzwischen ist DeFoe erwachsen, sein Dasein als Museumswärter im kanadischen Halifax der dreißiger Jahre plätschert solide dahin. Plagen ihn banale Sorgen, greift er zum Plätteisen - nach zwei, drei Hemden sind die krausen Gedanken wieder glatt. Als er aber eine Affäre mit der exzentrischen Jüdin Imogen durchleidet, beruhigen ihn auch anspruchsvollste Bügelfalten nicht. Seine Freundin ist einem Gemälde verfallen: Nächtelang verharrt sie im Museum vor dem Porträt einer Jüdin aus Amsterdam. Sie kleidet sich wie die Frau auf dem Bild, will gar deren tragisches Schicksal nachleben und dazu - Hitler-Wahn hin oder her - ins Horror-regierte Europa reisen. Behutsam reißt der US-Autor Howard Norman, 50, ein Provinz-Idyll aus den Fugen. »Der Bilderwächter«, sein dritter Roman, widmet sich der kleinen, unpolitischen Existenz des liebenswerten Ich-Erzählers DeFoe - um dann auf die ferne Nazi-Katastrophe zuzusteuern. Immer hält Norman sicheren Abstand: Als Imogen ihr Leben aufs Spiel setzt, erfährt DeFoe davon nur aus Briefen. Der Ton bleibt gelassen. Doch unter der lakonischen Oberfläche steigt die Spannung. Ohne Vorwarnung weben sich die Dramen in DeFoes Biographie. In seiner Hilflosigkeit offenbart sich die Ohnmacht seiner Zeit. Das Desaster nimmt seinen Lauf - er aber bügelt in der Gefängniswäscherei.

Howard Norman: »Der Bilderwächter«. Europa Verlag, München; 320 Seiten; 44 Mark.

Howard Norman: »Der Bilderwächter«. Europa Verlag, München; 320Seiten; 44 Mark.

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