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Artikel 87 / 109

Verliebt ins falsche Leben

Aus der spannungsreichen Innenwelt der einstigen DDR-Elite - eine neue deutsche Schulddebatte
aus DER SPIEGEL 11/2008

Die DDR war drollig. Eine Zeitlang. In der Erinnerung. Ende der neunziger Jahre gab es im Ostalgie-Shop Sandmännchenpuppen und »Sandalon«-Heizpantoffeln zu kaufen, und im Kino lief die »Sonnenallee«. Alles ganz lustig - zu lustig, fanden viele, die in der zweiten deutschen Diktatur gelitten hatten.

Dann wurde es ernst: Vor zwei Jahren kam »Das Leben der Anderen« in die Kinos, ein tiefmoralisches Werk über die

Perfidie des Schnüffelstaates. Dafür gab es einen Oscar, und seitdem dämmert die Erkenntnis, dass die Ostdeutschen vielleicht doch die wuchtigeren Geschichten zu bieten haben - Geschichten, mit denen die üblichen Wessi-Wohlstandsdramen nicht so leicht mithalten können.

Der Quotenerfolg des Ost-West-Films »Die Frau vom Checkpoint Charlie« im Fernsehen scheint diese These zu bestätigen. Kurz nach »Checkpoint Charlie« kam der opulente Wendefilm »Das Wunder von Berlin« ins Fernsehen, bald soll »Das Wunder von Leipzig« folgen - Ossi-Wunder gibt es immer wieder, immer häufiger.

Doch all diese Filme erinnern an die späte, längst ruinierte DDR. Woher die DDR aber kam, wie ihre Anfänge waren und wie sie fortwirkt bis heute - so etwas Kompliziertes können Filme wohl erst dann erzählen, wenn üppige Bücher darüber geschrieben wurden. Und bei den Büchern geht es erst richtig los.

Nun, da Die Linke in westdeutsche Parlamente einzieht und alle Welt rätselt, wie viel totalitärer Unsinn womöglich noch

drinsteckt, nun, da der in der DDR aufgewachsene SPD-Politiker Wolfgang Thierse bekennt, dass das Vorrücken dieser Partei für ihn ein »Trauma« berühre, erscheinen zur Leipziger Buchmesse mehrere Erinnerungswerke von ostdeutschen Autoren, die berichten können, was traumatisch für sie war und was nicht.

Es beginnt eine Spurensuche, die bei den Kommunisten der dreißiger und vierziger Jahre ansetzt. Die Spurensuche endet im Hier und Jetzt, bei den Überresten des mysteriösen »Arbeiter-und-Bauern-Staates«.

Mit den Überresten beschäftigt sich die Malerin Cornelia Schleime, 54, die als Berlin-Mitte-Ikone bekannt ist und nun ihren Debütroman geschrieben hat. Dieser Roman ist unverkennbar autobiografisch, eine Beziehungsgeschichte, die in der Gegenwart spielt. Eine Frau, ein Mann - beide in der DDR aufgewachsen - lernen sich übers Internet kennen und wirklich lieben. Doch ein Geheimnis, aus den Tagen, als die Mauer stand, treibt sie jäh auseinander.

Das Buch liest sich wie ein Schlüsselroman, ist eine Abrechnung mit dem Dichter und Stasi-Spitzel Sascha Anderson, mit dem die Autorin eng befreundet war. Auch sie wurde bis ins Intimste von ihm ausspioniert (siehe Interview Seite 156).

Schleime erzählt frisch und ungestüm, manchmal verrutscht ihre bildreiche Sprache - und doch ist es unmöglich, sich dem Sog dieser rätselhaften Geschichte zu entziehen. Das Buch hebt sich deutlich ab von anderen, die sich mit der DDR beschäftigen und jetzt zur Messe erscheinen: Es sind Sachbücher, die weitgehend in der Vergangenheit spielen. Drei von ihnen nehmen sehr offen - das ist in dieser Form neu und überraschend - die eigenen Eltern in den Blick, die Gründergeneration der DDR.

Eine beklemmende Frage durchzieht diese Rückblicke, eine Frage, die ins deutsche Dilemma des 20. Jahrhunderts hineinzielt: Wie konnten die Eltern, nachdem die Deutschen in der NS-Zeit bereits so viel Schuld auf sich geladen hatten, einen so bescheuerten Staat mitaufbauen, ein abermals totalitäres System, das die eigenen Leute entmündigte?

Die Protagonisten und Autoren der Erinnerungsbücher schreien diese Frage an die Gründungsväter (und Mütter!) nicht heraus. Sie wägen ab, sind vorsichtig mit Urteilen. Anders als die jugendlichen 68er-Rebellen, die bei der Schuldfrage immer demonstrativ auf die Alten verweisen konnten, sind die stillen Rebellen der DDR-Bücher selbst schon sechzig und siebzig, haben einen großen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht. Die Schuldfrage trifft auch sie.

Eines der Erinnerungsbücher stammt von Winfried Glatzeder. Der Schauspieler war Kult in der DDR, Protagonist des berühmten Defa-Films »Die Legende von Paul und Paula« (1973). Die Popularität des 62-Jährigen ist ungebrochen, auf der Leipziger Buchmesse wird er von Termin zu Termin hetzen, und obwohl seine Autobiografie »Paul und ich« gerade erst mit imponierenden 50 000 Exemplaren in den Handel kam, wird schon die zweite Auflage vorbereitet.

Glatzeder wäre wohl eher erstaunt, wenn man sein Buch in erster Linie als Abrechnung mit der Gründergeneration der DDR versteht. Er erzählt von seinem ganzen Leben, seinen Rollen, seiner Ehe, wie er von der Stasi als IM geworben werden sollte, wie er einen Ausreiseantrag stellte, wie er - kurz zuvor noch ein Star - im Auffanglager nach Läusen untersucht wurde, wie er im Westen beim »Tatort« anheuerte und im Fernsehkochstudio zum Verdruss von Alfred Biolek schlichtes Knoblauchbrot à la Ossi servierte.

Am stärksten ist dieses Buch, wenn Glatzeder von seinen Großeltern berichtet - die hatten weitgehend seine Erziehung übernommen. Hier präsentiert er einen Menschentypus, der auch in den anderen Erinnerungsbüchern auftaucht und dort für den Aufbau des Sozialismus verantwortlich gemacht wird, es ist der Typus des großbürgerlichen, elitären Kommunisten.

Der Großvater scheiterte in West-Berlin als Unternehmer und ging, um seinen Schuldnern zu entkommen, in den Ostsektor, wurde dort gleich Bürgermeister. Er unternahm gemeinsam mit der Großmutter Agitationsreisen, »um von den Errungenschaften des Sowjetvolkes zu berichten«. Immer dann kam der Junge ins Heim, so war es in Funktionärsfamilien üblich. Der kleine Winfried versuchte, durch allnächtliches Bettnässen die Rückkehr der Großeltern zu erzwingen, doch »wenn es um die Sache des Sozialismus ging, musste ein renitenter Fünfjähriger Geduld haben«. Auch später war das Kind in den Trümmern Berlins weitgehend auf sich selbst gestellt.

Die Großeltern zogen in eine Fabrikantenvilla. »Meine Großmutter machte nie einen Hehl aus ihrer großbürgerlichen Herkunft, hatte aber auch nichts gegen den Aufbau des Sozialismus, und das nicht nur, weil er Großvater vor seinen Gläubigern gerettet hatte.«

Großmutter Ellen, eine Jüdin, scherte sich nicht um die staatlich verordnete Demut, kaufte sich ein Segelboot, pachtete ein Wassergrundstück und warf »das Geld nur so zum Fenster« hinaus. Aber an sozialistischen Feiertagen flaggte sie, sagte: »Dem Apparat muss man Feuer unter dem Hintern machen!«

»Stur« habe seine Großmutter an der DDR festgehalten, schreibt Glatzeder verwundert. Für seinen eigenen Weg durch den Sozialismus hatte das doppelte Spiel aus Unterwerfung und Eigensinn Folgen: Bei Protestaktionen wie der Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1976 duckte er sich weg. Anfang der achtziger Jahre aber kam plötzlich die Erkenntnis: Er wollte raus aus dem Staat, obwohl

er inzwischen selbst Villenbesitzer war. Diesmal war er es, der stur blieb.

Eine wirklich existentielle Auseinandersetzung mit den Eltern sucht Irina Liebmann in ihrem neuen Buch »Wäre es schön? Es wäre schön!«. Bei ihr geht es um den Vater, sie habe einen regelrechten »Vaterkomplex«. Der Vater war die große Leerstelle, vieles in ihrem eigenen Leben blieb ihr fremd, weil ihr der Vater ein Rätsel war, nun macht sie ihn zur Hauptperson ihrer akkuraten, hochspannenden Recherche - das Buch ist mit vollem Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Liebmann, 64, eine erfahrene Autorin, rekonstruiert das Leben ihres Vaters Rudolf Herrnstadt, der wie Glatzeders Großmutter jüdische Wurzeln hatte, aus einer schwerreichen Familie stammte und trotz dieser kapitalistischen Prägung ein glühend gläubiger Kommunist war. Er wurde Journalist, berichtete aus Warschau und Moskau, zugleich war er Spion für die Rote Armee, stieß während des Krieges zu den deutschen Emigranten in Moskau, wohnte mit Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck im legendären Hotel Lux und ging dann im Mai 1945 als einer der führenden Strategen nach Ost-Berlin, wurde Chefredakteur der »Berliner Zeitung« und des »Neuen Deutschland«. Tochter Irina war da schon geboren.

Auch diese Kommunistenfamilie lebte großbürgerlich in einer Villa, die Tochter betont aber, dass sie nicht zu den Funktionärskindern gehörte, die ins Heim mussten - sie hatte, ganz nobel, eine Kinderfrau. Der Vater gab sich als Schöngeist und kümmerte sich nicht um die Intellektuellenfeindlichkeit der Funktionäre. Dann kam der Absturz. Ulbricht fürchtete die Konkurrenz und bezichtigte Rudolf Herrnstadt, ein Anstifter des Aufstandes vom 17. Juni 1953 gewesen zu sein. Der Vater verlor alle seine Funktionen und wurde aus der SED ausgeschlossen - dennoch hing er bis zu seinem Tod 1966 an der Partei.

Die Tochter hält Distanz, nennt den Vater fast durchgehend »Herrnstadt«. Sie, die 1988 entnervt die DDR verlassen hatte, kann nicht verstehen, warum ihr kluger Vater die finsteren Seiten der Genossen übersehen konnte. 1937/38 ließ Stalin viele Führer der Roten Armee ermorden, der Vater sah nichts ein. Die deutschen Emigranten im Hotel Lux waren wie »Eisblöcke«, doch der Vater hielt an ihnen fest.

Einmal, verzweifelt und ratlos, gibt die Tochter die Distanz auf und ruft dem Vater zu: »Wer bist du?« Die Antwort gibt sie sich an anderer Stelle: Dieser Rudolf Herrnstadt war ein Liebender, seine Beziehung zur Partei, zur Ideologie, zur Sowjetunion war eine Liebesbeziehung: »Wer liebt, der entschuldigt alles, er hofft und bangt, er wartet und übt sich in Geduld. Er erträgt den größten Blödsinn der Geliebten, ihre Unbildung und ihre Macken, er ist gerührt, wenn sie etwas falsch macht, denn er weiß es ja besser, er sieht ihre Schönheit und ihre verborgenen Fähigkeiten.« Die Tochter resümiert: »Das ist eine veraltete Form von Liebe, heute heißt es, wer liebt, der entschuldigt gar nichts.«

Auch die Tochter entschuldigt nichts. Doch sie sieht, dass der Vater wohl wirklich eine bessere Welt wollte. Aber »das lässt sich nicht mehr vermitteln«.

Das dritte Erinnerungsbuch soll den Regisseur Thomas Langhoff zu seinem 70. Geburtstag am 8. April ehren. Langhoff war Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, er stammt aus einer Theaterdynastie, sein Vater Wolfgang Langhoff war ebenfalls Intendant des Deutschen Theaters, sein Bruder Matthias ist ein bekannter Regisseur. Das Buch enthält ein großes Interview mit Langhoff - er denkt hier über das Leben in der Diktatur nach, über das Theater als Abbild und Gegenwelt -, hinzu kommen Tagebuchnotizen, Briefe, die der Vater an die Mutter geschrieben hatte.

Und der Vater und die Mutter sind die heimlichen Hauptfiguren - auch sie waren prägende Persönlichkeiten der frühen DDR, der Vater, so Langhoff, als »unerbittlicher Funktionär« und die Mutter als »Königin Mutter der handfesten Art, sie liebte den Luxus, die gute Küche, und sie fand sich zugleich sehr zurecht in der etwas rüden kommunistischen Umgangsart«.

Wie die Bilder sich ähneln: Auch diese Mutter kommt aus einer jüdischen Familie, auch diese Familie residiert in einer Villa, auch dieses Kind ist auf sich gestellt, taumelt verloren durch die Trümmer Berlins.

Der Vater war 1934 vor Hitler in die Schweiz geflohen, zuvor war er im KZ inhaftiert gewesen. Im Mai 1945 hängte er, aus Freude über den Sieg der Alliierten, ein Porträt Stalins ins Zürcher Wohnzimmer der Familie.

Sie zogen in die DDR - der Sohn äußert sich im Rückblick fassungslos darüber, wie der Vater im Fernsehen agitierte: »Unterordnung siegte über Hochkultur.« Auch er, der Sohn, sucht nach Gründen. Die Eltern wollten einen antifaschistischen Staat, das hatten sie bitter aus der Tragödie der NS-Zeit gelernt. Das apodiktische Verhalten des Vaters sei überdies typisch gewesen für die zurückgekehrten Emigranten. Sie hätten sich einem Volk von Mitläufern gegenübergesehen und wollten nun dieses Volk erziehen: »Das Gefühl, gegen ein ganzes Volk das Richtige zu tun, das kannten sie.«

Doch das, was die frühen Funktionäre für richtig hielten, war am Ende ein falsches Leben. Die DDR entwickelte sich zum totalitären Staat - und ein solches System hatten die Väter und Mütter der DDR eigentlich überwinden wollen.

Was hatten sie übersehen? Sie hatten über die Widersprüche der eigenen Existenz hinweggesehen, darüber, dass sie selbst doch mehr vom Leben wollten als nur bescheiden sein. »Es geht nicht um mich«, so hatte Rudolf Herrnstadt beteuert. Wäre es ihm aber einmal um sich selbst gegangen, dann hätte er aus den Ambivalenzen seines Lebens lernen können für den Staat, den er wollte: dass das Individuum zu seinem Recht kommen muss.

Thomas Langhoff sagt: »Vielleicht ist es so, dass meine Hoffnung in die Menschheit nicht mehr groß ist, aber in der Hinwendung zum einzelnen Menschen kehrt diese Hoffnung doch immer wieder zurück. Wer erzählt, mildert sein Unglück bereits.«

Eines muss man dem wiedervereinten Deutschland mit seinen abertausend Fehlern lassen: Das Individuum kommt hier ganz gut klar, Vater und Mutter Langhoff hätte es hier womöglich gefallen.

SUSANNE BEYER

* Mit Angelica Domröse, 1973.

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