»Verlierer sind die Helden«
Seattle ist nicht gerade der Ort, wo die Menschen nachts auf der Straße tanzen. Meistens bewegt sich nur dicker Nebel über den Asphalt. Und wenn es früher ab und zu etwas Rhythmisches zu hören gab, dann war daran der Regen schuld und sonst gar nichts.
Die Hafenstadt im äußersten Nordwesten der USA, eingeschlossen von kaskadischen Bergen und Pazifik, galt jahrelang als ein Platz, der dem modernen, schnellen Leben nichts beigesteuert hatte außer ein paar Boeing-Flugzeugen und Jimi Hendrix, der hier aufwuchs, wegging und erst als Toter zurückkehrte.
Alles, was eine Großstadt aufregend macht - in Seattle suchte man es lange Zeit vergebens. Wer jung war und in Amerikas Mittelstandsparadies nicht nur saubere Luft atmen, den Abfall ökologisch trennen und am Wochenende Lachse fangen wollte, der setzte sich ins Auto und fuhr drei Stunden lang ins kanadische Vancouver, oder er schloß sich mit ein paar Freunden in irgendeinen Keller ein, drehte die Verstärker bis zum Anschlag auf und machte so lange Radau bis Seattle weit weg war.
Das war, vor allem, laut. Aber es interessierte während der achtziger Jahre kaum jemanden außerhalb der Stadtgrenzen von Seattle. Schon gar nicht die Manager der großen Plattenfirmen mit Sitz in Los Angeles oder New York, die wohltönende CDs verkaufen wollten und nicht Krach, der klang, als käme er aus einer Betonmischmaschine.
Der Underground von Seattle lärmte unbeachtet vor sich hin, bis eine Gruppe mit dem verblasenen Namen Nirvana, die inzwischen beim Platten-Multi Geffen Records unterschrieben hatte, 1991 eine LP mit dem Titel »Nevermind« produzierte und davon fünf Millionen Stück verkaufte (SPIEGEL 3/1992). Ein Wunder für die Band, ein Rätsel für die Firma und eine Aufforderung an die Konkurrenz, in der Stadt nach anderen Gruppen zu suchen.
Seither gilt Seattle als neue Welthauptstadt des Rock. Wie vor 30 Jahren, als im Liverpooler Cavern Club der Beat erfunden wurde und mit den Beatles, Rolling Stones und Animals Schlager zu musikalischen Antiquitäten und Bill Haley zu einem alten Mann werden ließ, erobert nun der Seattle-Sound die Zimmer von Jugendlichen, und die Eltern hören, anders als damals, zu.
Der erste »Grunge«-Spielfilm ist abgedreht, Gruppen in England und Kalifornien imitieren den Sound bereits. Und wie einst der Beat aus Liverpool auch der Londoner Band Rolling Stones zu Weltruhm verhalf, so profitiert heute die Band Faith no more aus San Francisco vom Erfolg des Seattle-Sounds: Von ihrer LP »The Real Thing« wurden 2,5 Millionen Stück verkauft.
An der Musikbörse von Seattle geht es nun zu wie auf dem italienischen Markt für Profi-Fußballer. »Zur Zeit sind alle Flugzeuge Richtung Seattle ausgebucht«, sagt Ed Rosenblatt, Präsident von Geffen Records, »die sind bis auf den letzten Platz mit Talentscouts besetzt.«
Plattenfirmen übertreffen einander mit millionenschweren Angeboten, um Gruppen wie Mudhoney und Pearl Jam, Screaming Trees und Tad unter Vertrag zu nehmen. Und Szene-Zeitungen wie der englische Melody Maker beschreiben Seattle als heiligen Ort der Pop-Musik: »das Rock-Mekka der neunziger Jahre«.
Der Sound, der mit solchen Superlativen an den Rest der Welt verkauft wird, hat sich seit sieben Jahren in Seattle entwickelt. »Grunge«, abgeleitet von »grungy« ("schmutzig, ungewaschen, stinkend"), heißt die neue Spielart der Rockmusik, bei der sich die Energie und Aggressivität von Punk mit den schweren, wuchtigen und langsameren Rhythmen von verzerrten Heavy-Metal-Gitarren verbinden. Seattle-Rock sei, schrieb die New York Times über Nirvana, »eine Mischung aus den Beatles und Black Sabbath«. Diese Anklänge an die Musik der sechziger Jahre machen das Gehämmer auch für 40jährige attraktiv.
Bei besonders harten »Grunge«-Bands klingt allerdings nichts mehr melodiös. Ziel ist es, sagt Tad Doyle, der ehemalige Metzger und 300 Pfund schwere Chef der Band Tad, »ungefähr so zu krachen wie ein Torpedo, der in einen Schiffsrumpf einschlägt«.
In einer Zeit, da Rockmusik nur noch wie eine Sammlung vager Zitate aus der Vergangenheit wirkte, versuchten die Gruppen aus Seattle, sie auf naiv-brachiale Weise mit neuer Kraft und Direktheit aufzuladen. Und weil die vermeintlichen Erneuerer lange genug unter sich blieben, entwickelten sie neben dem Lärm eine Sturheit, die ihr Rockotop immun machte gegen die Versuchungen des Mainstream. »Wir hatten uns immer vorgenommen, uns nicht zugunsten des Markts zu verändern«, sagt Chris Cornell, Sänger der Gruppe Soundgarden, »sondern so lange weiterzuspielen, bis der Markt sich zu unseren Gunsten ändert.«
Ihren Aufstieg verdanken die Gruppen aus dem US-Bundesstaat Washington auch dem landesweiten wirtschaftlichen Niedergang. »Grunge« ist die Musik jener »verlorenen Generation der neunziger Jahre« (Seattle Times), die der Kanadier Douglas Coupland in seinem Schlüsselroman »Generation X« (SPIEGEL 34/1992) beschrieben hat: Die Eltern sind geschieden, in der Schule wird gekifft, der Fernseher läuft immer, und nach dem College gibt es keine Zukunft.
Ihr Lebensgefühl voll Trotz und Apathie, Wut und Langeweile, das sich in Liedern wie Mudhoneys »Touch me, I'm sick«, oder Nirvanas »Lithium« ausdrückt, wird von großen Teilen der Post-Baby-Boomer-Generation geteilt. Der amerikanische Traum ist der Gewißheit gewichen, zum gesellschaftlichen Proletariat zu gehören.
Und so wollen sie auch aussehen. Die Haare sind meist lang und ungewaschen, die Turnschuhe alt und stinkend, die Knie sind aufgeschürft und die Hosen kurz. »Verlierer sind die Helden der neunziger Jahre«, sagt Kurt Danielson von Tad. »Du wohnst in einem beschissenen Apartment, zahlst hohe Steuern, arbeitest zwölf Stunden am Tag und kommst trotzdem nie über die Einkommensgrenze der Armen hinaus. Du hast Kreditkarten und steckst bis zum Hals in Schulden.«
Aus dem Gefühl, nichts mehr verlieren zu können, entwickelte die Szene - jenes Gemisch aus Fans, Bands und Managern - eine Haltung, in der sich alte Hippie-Werte mit Punk-Ideen vereinigten. Seattle-Musiker bezogen Stellung gegen Yuppies und die Regierung Bush, gegen die großen Firmen und ihre Politik, aus Rockrebellen besser verdienende Angestellte zu machen. Ein Leben unter diesen Bedingungen lehnten sie ab und bastelten sich ihre eigene kleine Welt, ein Underground-Ghetto, in dem nicht Geld, sondern Glaubwürdigkeit das wichtigste Kapital war.
Vor allem zwei Männer prägten das Selbstverständnis der Szene: Bruce Pavitt, 33, und Jonathan Poneman, 33. Beide starteten 1986 eine kleine, unabhängige Plattenfirma namens Sub Pop. Das Kapital von 43 000 Dollar hatten sie sich von Eltern und Bekannten geliehen, das Büro bestand aus einem Ein-Zimmer-Apartment, und die Firmenphilosophie lautete: »Wir haben keinen Cent, also laß uns etwas auf die Beine stellen.«
Pavitt, der an einer freien Universität Punk-Rock studiert, und Poneman, der eine Militärakademie absolviert hatte, verdichteten die diffusen Trends der Subkultur zu einem prägnanten Stil, sie verwandelten ein lokales Lebensgefühl in ein exportfähiges Image. Statt teurer, digitaler Technologie benutzten sie billige, analoge Aufnahmeverfahren, statt mühsam konstruierter, farbiger Hochglanzmotive ließen sie verwackelte Schwarzweiß-Fotografien von Live-Konzerten auf die Cover drucken, und statt CDs brachten sie wieder Vinyl-Singles in Mode.
Für 35 Dollar im Jahr konnten Fans, die im Sub-Pop-Singles-Club organisiert waren, sämtliche Neuveröffentlichungen abonnieren. »Auf diese Weise«, sagt Pavitt, »konnten wir unbekannte Bands vorstellen und die Firma als Mutter all dieser Bands etablieren. Die Leute konnten sich auf uns verlassen. Wo Sub Pop draufstand, wurde garantiert Krach geboten.«
Heute zählt Sub Pop zu den profiliertesten unabhängigen Plattenfirmen. Der Verkauf von Nirvana an Geffen hat den beiden Machern so viel Geld beschert, daß noch »unsere Urenkel davon leben können«. Allein am Erfolg von »Nevermind« haben sie bislang mehr als eine Million Dollar verdient.
Vor allem aber haben sie die Plattenindustrie auf den Gedanken gebracht, daß es, ein Vierteljahrhundert nach Woodstock, wieder eine musikalische Subkultur gibt, die sich prächtig vermarkten läßt: Underground.
Wie in den sechziger Jahren, als fast jeder einen Plattenvertrag bekam, der aus Liverpool kam, lange Haare trug und einen Verstärker einschalten konnte, investieren Firmen in Musiker, die vorher nicht einmal am Pförtner vorbeigekommen wären. So kaufte Geffen vor kurzem die Krawall-Mädchen-Band Hole für eine Million Dollar, und die militante New Yorker Gruppe Helmet unterschrieb bei Atlantic einen Vertrag über 1,2 Millionen.
Ob sich die Geschäfte für die Konzerne und die ehemaligen Underground-Bands auf Dauer auszahlen werden, ist ungewiß. Zumindest die alten Fans schimpfen schon über den »Ausverkauf«, die vielgerühmte »Grunge«-Glaubwürdigkeit sei dahin. Angetreten, um dem Rock'n'Roll eine neue Unschuld zu geben und die Marketingmaschinen der Konzerne zu umgehen, haben die Rebellen von Seattle Kasse gemacht. Sie haben so lange gegen die großen Unternehmen angelärmt, bis jemand mit dem Angebot kam, weiter Krawall zu machen, aber bitte schön im Dienst einer Phono-Firma.
Der Erfolg, goldene und sogar zwei Platin-Langspielplatten für Musiker aus Seattle, und jetzt ein Hollywood-Film mit Matt Dillon als bärtigem Rocker, hat allerdings auch unangenehme Folgen für die »Grunge«-Hauptstadt: »Es gibt schon noch ein paar interessante Bands hier«, sagt Sub-Pop-Chef Poneman, »aber vor allem gibt es Hunderte von Scheißgruppen, die mit Seattle nichts zu tun haben und aus Los Angeles und New York hierher ziehen, um endlich einen Plattenvertrag zu bekommen.«