Zur Ausgabe
Artikel 68 / 83

BÜCHER / NEU IN DEUTSCHLAND Vertrauter Agent

John le Carré: »Eine kleine Stadt in Deutschland«. Zsolnay; 416 Seiten; 22 Mark.
aus DER SPIEGEL 45/1968

Bonn ist »ein nebliger, beschissener Ort«, aber auch »ein recht metaphysischer Flecken: die Träume haben die Realität völlig verdrängt«.

»Die Koalition ist krank«, der Bundestag ist »nackt, trostlos und ungetröstet, ein riesiges Motel in vergilbendem Milchweiß, betrauert von seinen eigenen Fahnen«, und im Kasino warten Journalisten, »träge vom Trinken ... schamlos auf das Stimulanz einer neuen politischen Katastrophe«.

Nein, es ist nicht die Zeit der Depressiven-Selbstmorde und des Sidewinder-Versands, nicht Oktober 1968 -- John le Carré, 37, der Meister des »Spion, der aus der Kälte kam« und des »Krieg im Spiegel«, der Anti-Fleming und Beinahe-Greene, ist schon etwas weiter, fast schon bei einem neuen 1933.

Im neuen Roman des ehemaligen Sekretärs der britischen Botschaft in Bonn, David Cornwell, der literarisch von Deutschland nicht lassen kann, marschiert ein neuer Führer auf Bonn, und mit ihm marschiert eine unheimliche Allianz: rebellierende Studenten und radikalisierte Bauern, neonationalistische Kleinbürger, »patriotische Mittelstandsanarchisten«. Der Tod der Demokratie scheint nahe, und die Opportunisten, darunter auch die Engländer, arrangieren sich bereits mit den Mördern.

Vor diesem lustvoll eingetrübten Polit-Hintergrund inszeniert le Carré eine Spannungsstory um seinen alten Arbeitsplatz: Aus der britischen Botschaft ist ein Angestellter mit Geheimpapieren verschwunden, deren Auftauchen am unrechten Ort Englands Bemühungen um den Eintritt in die EWG durchkreuzen könnte; aus London kommt Man Turner, den Mann und die Papiere aufzuspüren.

Dieser Agent ist vom vertrauten Carr&-Muster: glanzloser Nicht-Held, grauer Gegen-Bond, einmal mehr ein »Zyniker auf der Suche nach Gott«. Aber der Fall, den er zu lösen hat, ist, wie sich langsam enthüllt (und darin liegt sogar seine Pointe), kein Spionagefall mehr.

John le Carré wollte schon immer mehr als mit Thrillern unterhalten. Sein neues Buch ist, obwohl aktionsärmer, kaum minder spannend als die früheren Bestseller. Doch die Diplomaten, die diesmal -- statt der Geheimdienste -- des Autors Verachtung zu spüren bekommen, müssen etwas zu wortreich ihre Gefühlssterilität und moralische Indifferenz bereden. Noch auf der Straße, wenn sie ins Auto einsteigen, bekennen sie Existentielles: »Ich glaube fest an Heuchelei ... Sie ist die Verkündigung dessen, was wir sein sollten

Besser fügen sich der Erzählung manche konkreten Sarkasmen des Bonn-Kenners Cornwell-Carré ein.

Party-Anweisung für einen britischen Botschaftssekretär: »Mickie, um den ghanaischen Chargé d'affaires wird man sich kümmern müssen. Halten Sie ihn von der Botschafterin fern.« Auskunft einer Diplomaten-Lady über eine offizielle Festivität: »Ein typischer Bonner Empfang mit glasierter Ente und schrecklichen Deutschen.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 68 / 83
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren