MOTORRÄDER Verzögerte Panik
Im schwarzen Lederzeug steht der Easy Rider mit dem Tod auf Duzfuß: den Schädel unter Plastik verborgen, zwischen den Beinen 90 PS, gut für 220 Stundenkilometer und eine Beschleunigung fast so groß wie die des freien Falls. Wenn er, im Moment der Not,
beim Bremsen das Vorderrad für mehr als eine halbe Sekunde blockiert, verliert sein Fahrzeug abrupt jede Steuerfähigkeit. Mann und Maschine trennen sich. Harter Bodenkontakt ist unvermeidbar. Das Gerät verabschiedet sich Richtung Schrottplatz, dem Fahrer bleibt oft nur ein letztes gutes Werk, die Organspende.
Damit plötzliches scharfes Bremsen die treue Kundschaft nicht mehr den Hals kostet, hat BMW jetzt ein »Anti-Blockier-System« (ABS) für Motorräder zur Serienreife entwickelt. Auf Wunsch wird es ab sofort als Sonderausstattung gegen 1980 Mark Aufpreis in die Flaggschiffe des weißblauen Motorradproduzenten eingebaut: Alle Modelle der K-100-Serie, einer ebenso edlen wie teuren Zweiradkreation (Preis: ab 15 400 Mark), können so gegen die bösen Folgen der »Überbremsung« gesichert werden.
Möglich wird dies durch eine listenreiche Konstruktion, eine Kombipackung aus elektronischen und hydraulischen Bauelementen. An solchen Systemen arbeiten BMW, im Verein mit der Schweinfurter FAG Kugelfischer und der Firma Hella, aber auch japanische Konkurrenten schon seit Jahren. Obwohl sich bei BMW die ABS-Markteinführung gegenüber der Planung um über ein Jahr verzögerte, schlug die bayrische Firma ihre vier kapitalstarken japanischen Verfolger Honda, Yamaha, Suzuki und Kawasaki doch noch um Längen und wurde mit der Novität weltweit Erster.
Das Zusatzaggregat macht die K-100-Maschinen um acht Kilo schwerer. Herzstücke des Systems sind zwei Druckmodulatoren, die seitlich hinter den Fußrasten installiert wurden. Sie variieren, gesteuert von einer Elektronik, in Sekundenbruchteilen den Bremsdruck - immer wenn das Rad gerade blockieren will, wird seine Verzögerung minimal vermindert. Die gefürchtete Alternative - Bremsen oder Lenken - bleibt dem mit ABS gerüsteten Zweiradfahrer erspart. Geballte Computerintelligenz, verborgen in einem handgroßen Kästchen im Heckteil der Maschine, korrigiert jedweden Fehlgriff des Fahrers.
Drehzahlsensoren an beiden Rädern messen pausenlos die Verzögerungswerte. Bei einer Geschwindigkeit von beispielsweise 200 km/h wird die Regelelektronik pro Sekunde mit 6000 Informationen gefüttert. Wenn der Fahrer (oder auch immer häufiger die Fahrerin) voll in die Eisen steigt - Franz Josef Schermer, Chefredakteur des Fachblattes »mo«, nennt das die »Chaosbremsung« -, wird der hydraulische Druck siebenmal pro Sekunde lebensrettend moduliert. Schermer, früher Rennfahrer: »ABS macht aus einer Panikreaktion die optimale Verzögerung.«
Auf dem Berliner Flughafen Gatow, den die britische Royal Air Force verwaltet, wagten Schermer und drei Dutzend Testkollegen in der letzten Woche die Probe aufs Exempel. Betonflächen mit Streusand oder reichlich Wasser, aber auch normaler, trockener Straßenbelag standen wahlweise für die Mutprobe zur Verfügung. Sie ging ohne Blessuren ab. Mancher Tester verkürzte seinen gewöhnlichen Bremsweg auf die Hälfte des gewohnten Wertes. Stets blieben die Maschinen spurstabil, auch bei simulierten Not- und Schockbremsungen.
BMW, dessen Testfahrer mit ABS-Maschinen inzwischen mehr als eine Million Kilometer hinter sich gebracht haben, rühmt an der Novität, daß »auch bei plötzlich wechselnden Fahrbahnbelagszuständen wie trocken und naß, Rollsplitt, Sand oder Ölspuren« die lebensrettende Regulation des Bremsdrucks schnell genug erfolge. Daß die Computerintelligenz gerade hilfreich eingreift, merkt der Zweirad-Abenteurer an einer im Lenker spürbaren Reaktion der Maschine.
In der Kurve, wenn das Gerät schräg gelegt werden muß, ist allerdings auch ABS keine Hilfe mehr. »Gewisse Gesetze der Physik«, klagt BMW, »kann auch ABS nicht aufheben.« Wenn es um die Ecke geht, muß auch der elektronisch abgestützte Kamerad wie bisher sehr vorsichtig mit den Hebeln hantieren.
Damit er nicht allzu leichtsinnig wird und blind dem System vertraut, unterrichten zwei rote Kontrolllämpchen im Cockpit über die Funktion des Aggregats. Weil die Regelkanäle gleich doppelt angelegt wurden, überwacht sich das ABS pausenlos selbst. Da Verschleißteile fehlen, bedarf es keiner Werkstatt-Wartung. »Unser ABS«, verspricht Eberhardt Sarfert, der für die imageträchtige, aber nicht profitable Zweiradproduktion zuständige BMW-Mann, »funktioniert hundertprozentig.«
In ältere oder gar fremde Modelle soll es nicht eingebaut werden. Die Nachrüstung, sagt Sarfert, sei »viel zu kompliziert und viel zu teuer«, geschätzt: rund 5000 Mark. Die Firma hofft, daß sie in diesem Jahr noch 3000 Maschinen vom Typ K 100 mit ABS verkaufen wird, zwei Drittel davon ins Ausland.
Bis spätestens Anfang der neunziger Jahre werden auch die japanischen Produzenten mit intelligenten Bremshilfen folgen, jedenfalls für die großvolumigen und überschnellen Motorräder. Das könne gar nicht ausbleiben, erkannten die in Berlin versammelten Vorfahrer, denn wer auch nur einmal mit ABS richtig losgebrettert sei und dann brutal runtergebremst habe, »der wird süchtig danach«. _(Vollbremsungen bei Nässe, links mit ABS, ) _(rechts ohne ABS; die Auslegeräder ) _(verhindern bei der Demonstration den ) _(Sturz des Testfahrers. )
Vollbremsungen bei Nässe, links mit ABS, rechts ohne ABS; dieAuslegeräder verhindern bei der Demonstration den Sturz desTestfahrers.