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UNTERHALTUNG Viertes Programm

Täglich eröffnen in der Bundesrepublik neue Videotheken, auf Leihkassetten gibt es inzwischen Kinohits, Filmklassiker und Sprachkurse - die Videobranche erlebt einen Boom.
aus DER SPIEGEL 31/1982

Sendungsbewußt versuchen SPD-Politiker seit Jahren, televisionären Schaden vom deutschen Volke zu wenden: Weitere TV-Programme zerstörten die Familie, machten die Kinder aggressiv und seien auch für den Rest der Gesellschaft von Übel. »Ein zusätzliches Fernsehangebot wäre schädlich«, befand bündig der SPD-Generalsekretär Peter Glotz.

Dem Volke jedoch ist solche Fürsorge offenbar schnuppe: Immer mehr Bundesbürger entziehen sich zeitweise der langweiligen Zwangskost des deutschen Fernsehens und gestalten sich ihren TV-Abend selbst - per Video.

Sie füttern, wenn wieder mal dröge Komödien oder noch eine Wiederholung wie die »Alpensaga« (fällig im ZDF am Dienstag dieser Woche) über den Bildschirm flimmern, ihren Videorecorder mit Leihkassetten, auf denen aufgezeichnet ist, was die TV-Anstalten allenfalls mal zu nachtschlafender Stunde senden - Actionfilme, Krimi-Reißer, Horror-Schocker und knallharte Western.

»Von einer größeren Öffentlichkeit unbemerkt hat sich das umstrittene, verteufelte wie verteidigte private Fernsehen längst ausgebreitet«, konstatierte jüngst die Fachzeitschrift »Heimvideo«.

Kein Zweifel, die Deutschen werden - wie vor ihnen schon die Amerikaner und Japaner - ein Volk von Videoten. In jeder achtzehnten Wohnstube steht mittlerweile ein Videorecorder, in Scharen strömen die Bundesbürger in Videotheken, Videoboutiquen und Videoclubs, bei denen sie sich gegen Gebühr im letzten Jahr 15 Millionen Videobänder mit den neuesten Kinofilmen oder Kamellen von gestern ausliehen. 1982 werden die Deutschen annähernd eine halbe Milliarde Mark für Leihkassetten ausgeben - fünfmal mehr als noch vor zwei Jahren.

»Wird das Kino abgelöst durch das Heimkino?« fragte besorgt die »Katholische Nachrichtenagentur«; »Video ist auf dem Vormarsch«, beobachtete die »Süddeutsche Zeitung«, und die »New York Times« berichtete ihren Lesern im TV-Land Amerika von »einem Video-Boom in Germany«.

Begonnen hatte in der Bundesrepublik das Geschäft mit Videofilmen vor vier Jahren, als quicke Pornohändler und »Ehehygieniker« wie Beate Uhse die ersten Sex-Videos auf den Markt brachten. Sie bedienten die Bundesbürger massenhaft mit Freizügigkeiten »voll herrlicher Offenheit« (Beate Uhse) und verdienten mit Filmen wie »Mach's mir auf Französisch« oder die »Nimmersatte von Ibiza« allein 1979 mehr als 100 Millionen Mark.

Inzwischen jedoch sind die Videokonsumenten der Lustfilmchen überdrüssig geworden. Während noch vor drei Jahren 80 Prozent der angebotenen Video-Produktionen »hemmungslosen Sex« oder »Liebe pervers« zeigten, sind inzwischen nur noch 20 Prozent der Videos Pornofilme. »Dieser Markt spielt nur S.148 noch eine untergeordnete Rolle«, so Thomas Haffa, Chef der Münchner Vertriebsfirma CIC Taurus-Film Video.

Vor zwei Jahren begannen viele Radio- und Fernsehfachhändler damit, Regale mit Verleihvideos in ihren Läden aufzustellen - ausnahmslos saubere Ware, denn wo die Väter mit der Familie einkaufen, ließ sich Nacktes und Neckisches nicht absetzen.

Seither wurden auch überall in der Bundesrepublik, in Großstädten wie in Provinznestern, reihenweise Videotheken eröffnet - großzügige Läden mit Teppichen auf dem Boden, Spiegeln an den Wänden und vornehm wirkendem Chromdekor.

Inzwischen gibt es zwischen Bayerischem Wald und Ostfriesland über 1500 Videoboutiquen, und täglich kommen neue dazu. »In der Branche herrscht eine Goldgräbermentalität«, so der Münchner Video-Berater Ulrich Scheele, »Pleiten können da nicht ausbleiben.«

Die Videotheken kassieren in der Regel einen einmaligen Jahresbeitrag von durchschnittlich 60 Mark, dann können sich die Kunden für eine Leihgebühr zwischen fünf und 15 Mark pro Tag (je nach Region verschieden) Videofilme ihrer Wahl mit nach Hause nehmen - allemal bequemer und billiger, so haben viele Eltern erkannt, als mit der ganzen Familie ins Kino zu gehen und hinterher noch die quengelnden Kinder bei McDonald's abzufüttern.

Frequentiert werden die Videoshops, so der Branchen-Informationsdienst »Funk Korrespondenz«, vornehmlich »von der Schicht der Arbeiter und unteren Angestellten«. Meist suchen, wie die Verleiher beobachten, die Männer die Kassetten aus, und Muttern trägt sie dann wieder in den Laden zurück.

Rund 95 Prozent der Videokundschaft leihen sich die Filmkassetten aus. Käuflich erstanden, wie noch in den ersten Video-Jahren üblich, werden sie kaum mehr - kein Wunder bei einem Stückpreis zwischen 100 Mark ("Pink Floyd in Pompeji") und 400 Mark ("Der Krieg der Sterne"). Die bespielten Kassetten beziehen die Videotheken von inzwischen 62 Video-Vertriebsfirmen, die im letzten Jahr rund eine Million Videos an die Verleih-Shops absetzten - nahezu dreimal soviel wie 1980.

Sogar verfünffacht, von 1000 auf knapp 5000, hat sich in den letzten zwei Jahren die Zahl der angebotenen Videofilme; neben dem alten Schund ("Tante Trude aus Buxtehude") und Schrott ("Ein Kaktus ist kein Lutschbonbon") gibt es zunehmend Qualitätsfilme - Klassiker wie Fritz Langs »Metropolis« oder Charlie Chaplins »Der große Diktator« beispielsweise oder Filme von Rainer Werner Fassbinder oder Claude Saute (mit Romy Schneider), monumentale Hollywood-Schinken wie »El Cid« oder »55 Tage in Peking« und witzige Zeichentrickfilme ("Asterix« und »Lucky Luke"), Polit-Thriller wie »Der Profi« mit dem Brutalnik Jean-Paul Belmondo sowie die gesamte Serie der »Django«-Kultwestern.

Auf Video verkauft wird inzwischen Sportliches ("Zehn Jahre Wimbledon«, Golf und Grand-Prix-Rennen), klassische und krachige Musik ("Die Zauberflöte« und die Rolling Stones) sowie nationales Kulturgut ("Nathan der Weise") und zahlreiche Bildungsprogramme ("Rhetorik«, »Autogenes Training« und Sprachkurse).

Gastarbeiter können neuerdings Filme aus ihrer Heimat auf Video kaufen, für kleidungsbewußte Frauen gibt es »die Pret-a-porter-Kollektionen der berühmtesten Mode-Designer der Welt« auf Kassette. Und TV-Seher mit einer Schwäche für Seichtes können sich an einem monatlichen Videomagazin namens »Number One« delektieren.

Die Umsatzrenner in den Videotheken freilich sind stets die aktuellen Kino-Hits - derzeit gerade der Grusel-Schocker »American Werewolf«, der zweite Teil des bluttriefenden Rachestücks »Ein Mann sieht rot« und »Das Krokodil und sein Nilpferd« mit dem notorischen Schlagedrein Bud Spencer.

Bislang sind neue Filme meist erst drei Monate nach ihrem Kinostart auf Videoband zu haben; doch die Fristen zwischen Leinwand-Premiere und Videoauswertung werden, zum Verdruß der Filmtheaterbesitzer, selbst bei Spitzenfilmen immer kürzer. »In wenigen Jahren«, so Experte Scheele, »werden Filme zum Zeitpunkt ihres Kinostarts auch in den Videotheken erhältlich sein« - das Ende der Filmtheater?

Doch auch dem Fernsehen werden die Videos in Zukunft Konkurrenz machen; denn die Video-Vertriebsfirmen haben die Lizenzgebühren für die Spielrechte von Filmen derart in die Höhe getrieben, daß die TV-Anstalten demnächst nur noch schwer werden mithalten können.

Zwischen 250 000 und 300 000 Mark zahlen die Videogesellschaften beispielsweise für Top-Filme wie etwa die futuristische Rittersaga »Flash Gordon« oder das einfältige Psycho-Drama »Der Fan«, in dem der vorlaute TV-Teenager Desiree Nosbusch Brust, Po und noch ein wenig mehr zeigt.

Die bisherige Rekordsumme von einer dreiviertel Million Mark zahlte eine Vertriebsfirma für die Videorechte an dem Kinokassen-Knüller »Auf dem Highway ist die Hölle los«, rund 500 000 Mark kosteten die Verwertungsrechte für den Kriegsfilm »Das Kommando«, der demnächst auf Kassette erscheint.

Die Fernsehanstalten jedoch dürfen bislang für Filmrechte in der Regel nicht mehr als 130 000 Mark aufwenden. »Der Videosektor wird deshalb den Fernsehanstalten«, S.149 so ein Experte, »zunehmend die interessantesten Filmproduktionen wegschnappen.«

Um ihre Filme auch auf Video vermarkten zu können, haben alle großen Kinofilm-Produzenten in den letzten zwei Jahren eigene Video-Vertriebsfirmen gegründet. Die Atlas Film beispielsweise bietet unter anderem den Faust-Film »Mephisto« per Video an, die Neue Constantin Film zog John Carpenters Endzeitdrama »Die Klapperschlange« auf Kassette (Constantin Video); und auch die Hollywood-Riesen Warner und 20th-Century-Fox stiegen über Tochtergesellschaften ins Videogeschäft ein.

Der größte Videoanbieter auf dem deutschen Markt ist die erst vor neun Monaten gegründete Münchner Firma CIC Taurus. Hinter der Gesellschaft stehen die Hollywood-Produzenten Paramount und Universal sowie der bayrische Filmkaufmann Leo Kirch mit seiner Beta-Film-Gruppe, der sich überdies die Rechte an zahlreichen Produktionen der deutschen Filmgesellschaft Tobis gesichert hat.

Dadurch hat die CIC Taurus Zugriff sowohl auf viele Hollywood-Filme (über Universal und Paramount) als auch auf europäische Lichtspiele (über Kirchs Beta Film und Tobis). »Die Taurus«, konstatierte ein Konkurrent neidisch, »ist der erste Video-Multi der Welt.«

Wie mächtig der Videokonzern ist, zeigt die Hitparade des Fachblattes »VideoMarkt«, das jeden Monat eine Liste der am häufigsten verliehenen Videofilme veröffentlicht. Von den 50 aufgeführten Titeln stammen meist ein Dutzend aus dem Taurus-Programm.

Auf dem Videomarkt haben sich freilich auch Unternehmen breitgemacht, die weder über wohlklingende Firmennamen noch über repräsentative Büroräume verfügen: die sogenannten Video-Piraten, die Kinohits schwarz auf Kassetten überspielen und die illegalen Videobänder für 100 Mark pro Stück meist an Videotheken verhökern. »60 Prozent aller Videotheken führen illegale Ware«, ermittelte die »Funk Korrespondenz«.

Häufig werfen die TV-Freibeuter Videokopien von Filmen auf den Markt, die noch nicht in den Filmtheatern angelaufen sind. So konnten Fans beispielsweise, schon kurze Zeit nachdem der Film den Schneideraum verlassen hatte, per Video auf dem heimischen Bildschirm Lothar-Günther Buchheims Unterwasser-Epos »Das Boot« ansehen.

Meist überlassen bestochene Filmvorführer oder ungetreue Mitarbeiter der Produktionsfirmen den Piraten die gewünschten Filmrollen; von diesen fertigen professionelle Video-Piraten innerhalb weniger Stunden ein Mutterband, von dem dann beliebig viele Raubkopien gezogen werden können.

Rund 800 Raubtitel kursieren derzeit auf dem deutschen Videomarkt - meist brandneue Kinohits oder bewährte Dauerbrenner wie »Casablanca« mit Humphrey Bogart und alte James-Bond-Filme. »Rund 30 Prozent des Videoumsatzes finden hierzulande auf dem schwarzen Markt statt«, so Dr. Müller-Neuhof vom Deutschen Video Institut.

Etwa sechs Millionen Mark an Lizenzgebühren entgingen den Filmproduzenten allein im letzten Jahr durch in der Bundesrepublik verkaufte Raubkopien. Der gesamte wirtschaftliche Schaden wird »auf 300 bis 400 Millionen Mark pro Jahr geschätzt« (Müller-Neuhof).

Daß viele Videoverleiher nach billigen Raubkopien greifen, ist verständlich: Obwohl die Deutschen so viele Kassetten ausleihen wie nie zuvor, sind die Renditen der Videotheken häufig gering. »Viele Verleiher«, so Fachmann Scheele, »krebsen in der Verlustzone.«

In der Erwartung, mit Video eine schnelle Mark zu machen, haben in den letzten zwölf Monaten viele blauäugige Jungunternehmer mit eigenem oder geliehenem Geld reihenweise Videotheken eröffnet. So wuchs die Zahl der Videoverleiher schneller als die der Videokunden. Mit Dumpingpreisen versuchen nun die in Bedrängnis geratenen Videoshops sich gegenseitig die Klientel abzujagen.

Zudem verstehen viele der meist branchenfremden Videotheken-Besitzer nicht viel vom Film und kaufen daher die falschen Titel ein; die liegen dann monatelang in den Regalen und setzen Staub an: Viele der in den Videotheken angebotenen Titel, so ergab eine Untersuchung, werden nur ein- bis zweimal im Jahr ausgeliehen - zuwenig, um Gewinn zu machen. »Der Video-Boom wird weitergehen«, prophezeite Scheele, »aber gleichzeitig werden viele Videotheken dran glauben müssen.«

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