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Vietnamesisches Roulett

»Die durch die Hölle gehen«. Spielfilm von Michael Cimino. USA 1978; 183 Minuten; Farbe.
aus DER SPIEGEL 8/1979

Deer Hunter« heißt der Film im Original. Der Verleih sah sich aus unerfindlichen Gründen genötigt, den Mißverständnissen, denen sich dieses schockierende Meisterwerk ausgesetzt sehen wird, durch einen absurd blöden Titel ("Die durch die Hölle gehen") noch eins draufzusetzen. Obwohl die Szenen aus dem Vietnamkrieg zu den grausamsten, gewalttätigsten zählen, die je auf einer Leinwand gezeigt wurden, ist dies keiner der üblichen Pro- oder Antikriegsfilme.

Der bis dato kaum bekannte Regisseur Michael Cimino und sein Drehbuchautor Deric Washburn ergründen vielmehr die traumatischen Katastrophen, die über jene hereinbrachen, die in diesen Krieg geführt wurden. Sie argumentieren dabei nicht politisch, sondern moralisch. Statt die leicht zu beantwortende Frage nach der Schuld zu stellen, schildern sie den Verfall und die Zerstörung menschlicher Werte, in deren Namen die USA ihr Vietnam-Verbrechen begingen.

Man kommt diesem Film mit aufklärerischem Schlagwortvokabular kaum bei, sein Kern liegt jenseits des politischen Schwarzweiß-Schemas, dort, wo Gut und Böse eine Dimension der Tat und nicht der Position ist. Eine eminent pragmatische und damit uramerikanische Haltung also, obwohl man in Ciminos Film Amerika nicht mehr wiedererkennt. Und wenn man schon ideologisch analysieren will, dann könnte man in ihm das Ende des Pragmatismus, unter den die USA ja sämtliche Weltanschauungen zwingen, signalisiert sehen.

Patriot sein hatte in einem Land, das noch keinen Krieg verloren hatte, auch seine pragmatische Seite. Und da sitzen am Schluß des Films Witwen, Mütter, die ihre Söhne, Männer, die ihre Freunde verloren haben, nach dem Begräbnis eines Soldaten, der am Vietnamkrieg wahnsinnig geworden ist, zusammen und singen, zaghaft-verlegen zuerst, dann immer trotziger »God bless America«. Eine Szene, die gerade deshalb so beklemmend, erregend und mutig ist,

* Mit Mary Ann Haenel.

weil diese Leute gerade nicht dem Wasp-Klischee von Amerikanern entsprechen.

Denn Ciminos Film spielt unter russischen Emigranten der zweiten und dritten Generation, die sich in einem kleinen Industrieort Pennsylvanias noch eine intakte Gemeinde diesseits amerikanischer Abfallkultur bewahrt haben. Er erzählt von einer Männerclique, die in einem Stahlwerk arbeitet, die zusammen säuft, hinter Mädchen her ist und als quasi bündischer Ritus in den Wäldern der Alleghennys auf Jagd geht.

Der Film beginnt mit einer russischorthodoxen Heirat zwischen Steven (John Savage) und Angela (Rutanya Alda), eine fast einstündige, mitreißend gefilmte Sequenz, die in ihrer unbeschwerten Vitalität ein krasses Gegenstück etwa zu Altmans »Hochzeit« darstellt. Hier hat die Zeremonie noch Sinn als Mittel- und Höhepunkt eines ungebrochenen Gemeindelebens.

An den Wänden des Ballsaals hängen jedoch schon wie mahnende Menetekel die Bilder der künftigen Kriegshelden. Denn Steven und seine Freunde Michael (Robert de Niro) und Nick (Christopher Walken) werden tags darauf eingezogen. Sie sind stolz auf ihre nationale Pflichterfüllung. verprügeln sogar einen Offizier, der eben aus Vietnam kommt und alles Scheiße findet.

Nach der letzten gemeinsamen Jagd, bei der Michael einen Hirsch erlegt, schneidet Cimino unvermittelt ins Kriegsgeschehen, dessen infernalische Sinnlosigkeit man so noch kaum gesehen hat. Die drei geraten in die Hände des Vietcong, werden in ein Camp verschleppt, wo man sie zwingt, gegeneinander Russisches Roulette zu spielen, wobei die Vietcong-Offiziere Wetten abschließen.

Am spielerisch-wahnsinnigen Rande der Existenz, wo zwischen Hoffen und Tod eine Kugel und fünf leere Kammern liegen, läßt Cimino die Charaktere seiner Figuren auseinanderbrechen.

Zwar gelingt es ihnen, dank Michaels Beherztheit zu fliehen, doch sind sie von da an nur noch physische und psychische Wracks. Steven verliert ein Bein, Nick kommt vom Spiel mit dem Tod nicht mehr los. Im Hexenkessel Saigons verdingt er sich bei einem französischen Spielmacher, der in einem Lagerschuppen mit ebenso ausgeflippten Soldaten dasselbe Russische Roulette organisiert.

Michael, hoch dekoriert wie verstört nach Hause zurückgekommen, wo er sich nicht mehr zurechtfindet, geht wieder nach Saigon, das sich in der Auflösung kurz vor der Einnahme durch den Vietcong befindet, um Nick, mit dem ihn mehr als eine Freundschaft verbindet, herauszuholen.

Er bringt ihn nur noch als Leiche heim. Nick, vollgepumpt mit Drogen, hatte seinen Freund nicht mehr erkannt, auch nicht, als Michael in einer Verzweiflungstat noch einmal wie im Gefangenenlager Russisches Roulette spielt. Nick erwischte die volle Kammer.

Daß Cimino keine einsichtige politische Position bezieht, daß er es sogar wagt, Vietcong-Soldaten als sadistische Killer zu zeigen, wird viele abstoßen. Aber statt verbreitete Wahrheiten zu illustrieren, ist Cimino einen anderen, wesentlich mutigeren Weg gegangen. Er sprengt die amerikanischen Absichten und Rechtfertigungen quasi von innen heraus.

Denn mit diesem Krieg hat Amerika nicht nur Verbrechen gegen das vietnamesische Volk, sondern auch gegen sich selbst begangen. Wer ein Inferno anzettelt, kommt selbst darin um. Ciminos meisterhafter Trick ist es, diese Tragik gerade am Schicksal einer Einwanderergemeinde zu zeigen, in welcher der Patriotismus ja gerade deshalb so stark lebt, weil die amerikanischen Ideale Teil der persönlichen Sehnsüchte dieser Einwanderer sind.

Daß das Land der Freien und Tapferen ein Land der Verbrecher sei, hieß es auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges. Ciminos überlebende Helden sind zwar frei und tapfer, aber sie sind heimatlos geworden. Michael Cimino verfügt über eine faszinierende Mischung aus Intellekt und filmischem Instinkt. Mit »Deer Hunter« ist er neben Scorsese und Coppola zu einem der wichtigsten Regisseure des jungen Hollywood geworden.

Wolfgang Limmer

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