Thomas Fischer

Völkerstrafrecht Eine neue Weltordnung

Thomas Fischer
Eine Kolumne von Thomas Fischer
In Davos, einem netten Ort in einem neutralen Staat, sprachen der »Nato-Chef«, der Bundes-Kriegswirtschaftsminister und ein paar Oligarchen des Westens über die zukünftige Aufteilung der Welt. Wir sind betroffen.
Foto: Markus Schreiber / AP

Wirtschaftsschnack

Wir Deutsche hatten einmal einen Bundeskanzler, der mächtig stolz darauf war, zum Durchregieren keinen Professor aus Heidelberg, sondern nur »Glotze und Bild« zu benötigen. Das wurde ihm von sensiblen Professoren in den Deutungszentren der Republik übel genommen und in der Geschichtswissenschaft unter »Flasch Bier« abgelegt. Heutzutage, im Jahrhundert der mimisch-visuell grübelnden Regierungskunst eines Friedrich M. und eines Robert H., geht so etwas natürlich nicht mehr: Hier wird die Absatzhöhe der Gepardenministerin vom eleganten Finanzminister persönlich gemessen.

Wie Sie wissen, sehr geehrte Leser, hat in dieser Woche der Bundeswirtschaftsminister »eine neue Weltordnung« gefordert . Darunter macht man es nicht in Davos, schon gar nicht, wenn man der »beliebteste« deutsche Nichtbundeskanzler ist und Frau von der Leyen vom Podium raunte: »Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen«, was wahrscheinlich eher eine untertänige Bitte an den Göttervater »Biden« war als ein Befehl an den genannten Staat, allerdings in beiden Fällen wenig mit der drohenden Hungersnot unter deutschen Rentnern oder den Affenpocken zu tun hat.

Anschließend, so vdL, benötigt man dort (UKR) einen Rechtsstaat, eine unabhängige Justiz, eine etwas weniger korrupte Staatsverwaltung, eine auf fünf Billionen Dollar Kredit gestützte neue Volkswirtschaft sowie die Entmachtung aller »Oligarchen«. Große Pläne also für blühende Landschaften! Herr Jens Stoltenberg, der in Davos die Industrie- und Handelskammer des Westens vertrat, ergänzte noch, »grundsätzlich« spreche nichts gegen den Handel mit China. Da waren wir sehr erleichtert, schon weil wir seit zwei Monaten auf ein paar LED-Glühbirnen warten. Eine Videobotschaft des amerikanischen Präsidenten mit ergriffenem Dank an die Partner und Glückwünschen an die amerikanische Ölindustrie, der die Cancelung von NS2 ein paar Billionen Dollar pro Jahr einbringen wird, wurde, soweit ich weiß, nicht eingespielt. Man muss sich auch einmal still freuen können.

Neuigkeiten!

Wie Sie ebenfalls wissen, hat in der vergangenen Woche eine geheime Quelle eines Wissenschaftlers diesem und er wiederum einem garantiert neutralen Investigativnetzwerk mitgeteilt, dass in China, dem Land am Ende der bewohnten Welt, eine hohe Zahl von Uiguren, Menschen anderen Aussehens, anderer Traditionen und anderer Religion als die Mehrheiten der Han-Chinesen, Ukrainer und Deutschen, entgegen der Annahme der Bundesregierung nicht in Integrationszentren und Betreuungseinrichtungen gehalten werden, in denen es nicht immer ganz lupenrein zugeht. Tatsächlich, so hat die Bundesaußenministerin erstmals erfahren, werden dort Hunderttausende von Menschen mit brutalen, jeder Rechtsstaatlichkeit spottenden, menschenrechtswidrigen Methoden »umerzogen« und zu »richtigen« Chinesen gemacht, was nach Ansicht der Verantwortlichen am besten dadurch zu erreichen ist, dass man jedes geringste Zeichen einer eigenständigen Kultur, einschließlich Sprache und Religion, mit härtesten Strafen ahndet.

Die Bundesaußenministerin »zeigte sich«, wie man erfuhr, ob dieser Nachricht »tief entsetzt«, einmal mehr fassungslos und zudem empört; sie hat deshalb, wie man las, »von Peking transparente Aufklärung gefordert«. Da wird sich Peking sehr gefürchtet haben. Es hat derzeit etwa 22 Millionen Einwohner, also so viel wie NRW, Berlin und Hamburg zusammen. Es funktionierte schon als Hauptstadt, als der Westen noch 200 Jahre auf die Geburt Homers warten musste.

Die derzeitige Bundesministerin des Äußeren hat ihr Amt seit 8. Dezember 2021 inne. Seither sitzt sie mindestens einmal pro Tag für mindestens eine Stunde in einer »Lagebesprechung«, in der ihr von den Abteilungen des Ministeriums die von eigenen und befreundeten Geheimdiensten in großer Menge zusammengetragenen Informationen und Bewertungen der Ereignisse in der Welt da draußen (Zuständigkeitsbereich) vorgetragen und erklärt werden. Außerdem finden pro Tag weitere zehn Termine statt, bei denen Informationen im Speziellen vertieft werden.

Es darf also jedenfalls ausgeschlossen werden, dass die Ministerin davon, dass in den Umerziehungslagern der chinesischen Provinz Xinjiang seit Jahren gefoltert, vergewaltigt, genötigt wird und dass diese Maßnahmen sich gezielt gegen die ethnische Minderheit der Uiguren richten, deren Kultur und Eigenständigkeit (Identität) nach dem Willen der chinesischen Regierung vollständig ausgelöscht werden sollen, erst kürzlich aus der Zeitung erfahren hat. Dagegen spricht auch, dass Frau Ministerin Anfang Dezember mitteilen ließ, sie habe gesagt, dass sie »einen härteren Kurs gegenüber China« ankündige. Sie brachte »ein Importverbot für Produkte aus der chinesischen Region Xinjiang ins Spiel« und schloss auch einen Boykott der Olympischen Winterspiele nicht aus. Nun gut: Dass man dem chinesischen Volk und der deutschen Wintersportindustrie nicht zumuten konnte, auf deutsche Bobfahrer zu verzichten, haben wir durch den tapferen Rausschmiss der russischen Behindertensportler moralisch wieder ausgeglichen. Über das Importverbot können wir ja reden, sobald wir mit Russland abgerechnet haben.

Aber jedenfalls ist die Behauptung, die Außenministerin sei über die Enthüllungen der vergangenen Woche »tief betroffen« und schockiert, bestenfalls ein sehr kleiner Teil der Wahrheit. Verlautbarungen des Auswärtigen Amts darüber, wie sich die Ministerin »gezeigt habe«, sind nämlich keine Bulletins über den emotionalen Zustand von Frau Annalena B., sondern Erklärungen der Bundesregierung über das Wissen und Wollen des Staats. Und diesem Staat ist seit vielen Jahren sehr genau bekannt, wer die Uiguren sind und was ihnen geschieht. Im Januar, als Frau B. erstmals mit Herrn Wang Yi, dem Außenminister, sprach, hieß das Thema »die Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen« (AA, 20.01.2022). Ich vermute, da ging’s eher um lebendige Chips als um tote Kinder.

Völker und Recht

Da die Ministerin bekanntlich vom Völkerrecht her kommt, ist ihr möglicherweise § 6 Abs. 1 des Deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) bekannt geworden, der lautet:

»Wer in der Absicht, eine (…) religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,

1) ein Mitglied der Gruppe tötet,

2) einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden (…) zufügt,

3) die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen

4) Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,

5) ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt,

wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.«

Und § 1 des VStGB stellt klar:

»Dieses Gesetz gilt für (…) Taten nach § 6 (…) auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.«

Zuständig für die Verfolgung solcher Taten ist, der Mehrheit der Bundesbürger geläufig, der Generalbundesanwalt (GBA), der im Moment Beweismittel sammelt und Ermittlungen durchführt, um die zahlreichen russischen und vielleicht vereinzelt auch ukrainischen Täter zu verfolgen, die seit Februar 2022 mutmaßlich Taten nach §§ 6 bis 12 VStGB begangen haben. Das ist auch gut so, denn schließlich gilt auch für den GBA § 152 Abs. 1 StPO:

»(Die Staatsanwaltschaft) ist … verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.«

Ob solche Anhaltspunkte gegeben sind, ist in einem »Vorprüfungsverfahren« herauszufinden. Das sollte hier – bezogen auf den Völkermord an den Uiguren – kein Problem sein. China, das wie die Ukraine das Römische Statut zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nicht unterzeichnet hat, möchte die Taten vermutlich in den nächsten 500 Jahren nicht verfolgen. Ein paar Planstellen könnte man beim GBA also durchaus schon mal vorhalten!

Nah und fern

Nun werden wieder manche sagen: Was soll’s? Völkermord in China macht Kriegsverbrechen in der Ukraine ja nicht besser, und der Ukrainer als solcher ist uns doch näher als die Uigurin, schon rein entfernungsmäßig, aber auch wegen der unangenehm wokenessfernen Lebensweise der Letzteren. An diesem Argument ist zweifellos etwas dran, und man soll auch, wie der Dichter sagt, zunächst vor der eigenen Tür, und wenn dort alles sauber ist, im eigenen Hinterhof kehren. Aber was ist hier Vordertür, was Hinterhof, und was Kehren?

Hier muss man nun an den »Tagesschau«-Bericht vom 28. Juli 2021 erinnern, den Sie, Leser, gewiss ebenso in Erinnerung haben wie den Bericht des ZDF vom 14. Juli 2021:

»In den vergangenen Wochen wurden die Überreste von fast 1000 Leichen von Kindern der kanadischen Ureinwohner gefunden, die meisten in der Provinz British-Columbia (…) In Kanada waren zwischen 1830 und 1998 etwa 150.000 Kinder der Ureinwohner von ihren Familien getrennt und in Heime gesteckt worden. So sollte die Anpassung an die europäische Einwanderer-Gesellschaft erzwungen werden. (…) Im ganzen Land gab es rund 140 solcher Einrichtungen (…) Viele der Kinder an diesen Schulen wurden Opfer von Misshandlungen und sexueller Gewalt (…) Etwa 4100 Todesfälle sind dokumentiert. Viele Funde wurden erst durch den Einsatz von Bodenradaren gemacht. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen.«

(Quelle: ARD »Tagesschau«, 28. Juli 2021)

Das ist nun gerade einmal neun Monate her und unangenehm. Kanada ist Gründungsmitglied der Nato, einer von Deutschlands allerbesten transatlantischen Freunden, und mehr »der Westen« als Kanada geht ja gar nicht, bevor man auf der falschen Seite wieder herauskommt. Ich kann mich allerdings im Moment gar nicht mehr daran erinnern, ob und wie fassungslos und schockiert sich die deutsche Bundesregierung im Jahr 2021 gezeigt hat über die vermutlich unverjährten Menschenrechtsverbrechen gegen ethnische Minderheiten durch die kanadischen Freunde. Hat das zuständige Bundesministerium da mal nachgefragt in Ottawa, wie der Stand der Ermittlungen ist?

Jedenfalls wissen wir, dass das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA), also das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, am 30. Oktober 2016 vom Europäischen Rat, der Kommission und der kanadischen Regierung unterzeichnet wurde und nach Zustimmung des EU-Parlaments am 21. September 2017 vorläufig in Kraft getreten ist. Das endgültige Inkrafttreten ist von der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten abhängig. Der Entwurf eines Ratifizierungsgesetzes (BT-Drucksache 19/14783), eingebracht von der Abgeordneten Strack-Zimmermann und Kollegen, hebt mit den schönen Worten an:

»Kanada ist ein wichtiger strategischer Partner für Deutschland und Europa, uns verbinden eine enge Zusammenarbeit sowie gemeinsame Werte und Interessen.«

(BT-Drs. 19/14783, S. 1)

Wissen und Nichtwissen

Ausflüchte sind jetzt nicht mehr möglich. Die »Uiguren-Files« sind auf dem Markt. Leserin und Leser wissen: Gegen »Files« lässt sich nichts sagen, und falls man nicht weiß, was ein »File« ist, schadet das nicht. Bis zum »File« ist alles Geschwätz, mit »Files« im Plural beginnt wirkliche Kenntnis.

In dieser Kolumne geht es immer um das Letzte und Höchste, also das Recht. Manche finden diese Behauptung witzig; andere nörgeln und höhnen im Bodensatz herum. Das macht nichts: Sie irren gleichermaßen.

Kennzeichen des Rechts ist das Recht. Etwas weniger dadaistisch und mit Niklas Luhmann gesagt: Recht kann nur aus Recht kommen. In der professoralen und wirklichen Welt der Legitimation (Berechtigung): Es gibt nicht »ein bisschen« Recht, und nicht Recht nach Belieben, Stimmung und Parteizugehörigkeit. Natürlich gibt es all dies als Behauptung; sie hat aber keinen immanenten Wert. Das Recht hat eine innere Logik, die vor langer Zeit angefangen hat und sich in so scheinbar offenen Begriffen wie »Verhältnismäßigkeit« oder »Fairness« spiegelt, die man schon im ganz alten Peking kannte. Banal und konkret: Wer behauptet, Menschenrechtsverletzungen seien per se »unerträglich«, ist entweder ein manipulativer Dummschwätzer oder ein Lügner oder muss sagen, was er daraus folgert. Wer sagt, mit dem einen Völkermörder solle man paktieren und gegen den anderen Krieg führen, muss jedenfalls einen Grund dafür nennen, der außerhalb des Rechts liegt. Das kann im Einzelfall auch einfach nur der Grund sein, dass man erstens etwas haben will und zweitens die Macht hat, es sich zu nehmen und zu behaupten, das sei »gutes Recht«. Das Problem hieran ist, wie Caesaren aller Zeiten früher oder später erfuhren, immer die interne Legitimation.

Herr Joseph Biden, den wir hier einmal »Der Westen« nennen wollen, hat, wie ich einer Zeitung entnahm, dem Staat Taiwan, der nicht Mitglied der Nato und der »Großen Sieben« ist, eines Weltoligarchen-Clans, umfassende militärische Hilfe zugesagt, sollte es jemals vom Staat China angegriffen werden. Herr Selenskyj sagte zeitgleich, man müsse demnächst früher und prophylaktisch potenzielle Angreifer auf die freie Klitschko-Welt ausschalten. Das klingt ein bisschen wie die »Putin«-Propaganda und wurde beim Filmfestival ebenso »standing« ovatiert wie das kalte Büfett, aber das nehmen wir jetzt mal nicht so ernst; der Mann Wolodymyr ist ja auch nur ein Mensch.

Am Ende kommen wir also auch heute wieder nur zu einer Frage. Sie lautet: Durch welche Rationalität können wir eine Moral ersetzen, die nicht trägt? Was sagt uns dazu das Völkerrecht? Wenn man behauptet, über Recht zu sprechen und ihm verpflichtet zu sein, muss man dies auch tun; sonst verliert man gerade die Legitimität, auf welche man die Macht des eigenen Handelns stützt. Wenn die Berufung von Staaten auf das Recht tatsächlich nicht trägt, ist das keine Frage persönlicher »Heuchelei« oder individueller Selbstüberschätzung. Es bedarf dann vielmehr einer anderen, tragfähigen Begründung.

Dies ist, was die Bürger des »Westens«, falls dies etwas Inhaltliches bedeuten soll, von ihren Staaten erwarten können und fordern müssen. »Glotze und Bild« und »zeigt sich schockiert« sind erstens inhaltlich, zweitens schön und gut bei Hempels hinterm Sofa, taugen drittens aber nicht ansatzweise für die neue Weltordnung – die, wenn wir die Performance richtig deuten, einfach nur die alte sein soll.

Abschlussfrage: Wie viele Opfer muss das Deutsche Volk bringen, um ohne Importe aus den Staaten Kanada und China durch den nächsten Winter zu kommen? Und wenn nein: warum nicht?

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