LITERATUR Volle Pulle
Im Mai 1952 tagte die »Gruppe 47« in Niendorf an der Ostsee. Wie üblich lasen die Schriftsteller einander aus neuen Werken vor und kritisierten das Vorgelesene. Wie üblich sollte zum Schluß auch wieder gefeiert werden. Doch diesmal, erinnert sich Hans Werner Richter Gründer und Lenker der Gruppe, »geschah noch etwas Seltsames«.
Ernst Schnabel, Intendant des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) und selber Schriftsteller, lud die versammelten Autoren zu einer Fete »irgendwo« in Hamburg ein. Sie folgten ihm und merkten erst mit Verspätung, in was für ein »Etablissement« Schnabel sie geführt hatte. Richter: »Es gab, obwohl es weit nach Mitternacht war Kaffee und Kuchen, und die Damen bedienten uns. Sie trugen lange schwarze Strumpfe mit blumenverzierten farbigen Strumpfbändern, wohinein jemand Zehnmarkscheine steckte...«
Schnabels »Bordellstreich« wurde von den Schriftstellern schließlich mit »großem
Gelächter« quittiert. Nur zwei junge Dichterinnen reagierten verstört: Sie »hockten auf einer Couch, eng aneinandergeschmiegt, so, als wären sie unversehens in einen Sturm gekommen« - Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann.
Die Geschichte dieser Surprise-Party ist eine Episode in Richters neuem Buch »Im Etablissement der Schmetterlinge«. Der heute 77jährige Autor präsentiert darin keine zusammenhängenden Memoiren aus den Anfänger- und Aufstiegsjahren der deutschen Nachkriegsliteratur, sondern eine lockere Folge von Erinnerungen an einzelne Autoren, die in der »Gruppe 47« auftraten. _(Hans Werner Richter: »Im Etablissement ) _(der Schmetterlinge«. Carl Hanser Verlag, ) _(München; 288 Seiten; 34 Mark. )
Neben amüsanten bietet das »Etablissement« auch manche eher läppischen Reminiszenzen. Daß Richters 21 »Portraits« die Porträtierten bei aller vom Autor bekundeten Sympathie kaum idealisieren, kommt der Unterhaltsamkeit seines Buches zugute.
Hübsch zeichnet er den von keiner Selbstironie gebrochenen Ernst nach, mit dem sich der Anfänger Alfred Andersch um 1947 vor Kollegen zum kommenden Großmeister deutscher Literatur ausrief: »Er sagte, er würde Thomas Mann nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln... Jene, die damals um ihn herumsaßen, schwiegen verblüfft. Keiner sagte ein Wort, nur Fred spürte von diesem betretenen Schweigen nichts, er hielt es wohl für Zustimmung.«
Heinrich Böll versprach, in einer von Richter moderierten Fernseh-Talkshow zu erzählen, wie er 1944 als Soldat in Rumänien Wehrmachtshosen an rumänische Zivilisten verschoben hatte. Aber in der Sendung änderte er dann die »humorvolle und selbstkritische« Geschichte so ab, daß er selbst in ihr, nicht mehr der Handelnde« war. Von Richter deswegen hinterher zur Rede gestellt, antwortete Böll: »Ich werde mir doch nicht meine Biographie verderben.«
Im Berliner Lokal »Volle Pulle« erläuterte Peter Weiss dem Kollegen Richter und dem Barkeeper »Karlchen« seinen Plan zu einem historischen Theaterstück. Karlchen schlug als Helden Robespierre vor, aber Weiss sagte, er habe an Marat
gedacht, und »nun wurde Marats Leben auseinandergepflückt«, und Karlchen erwies sich dabei von »großer Detailkenntnis« und »goß immer wieder unsere Gläser voll«.
Wie Weiss mit Richter an einem italienischen Strand Urlaub machte, dabei »Das Kapital« zu lesen versuchte und bei Seite zehn steckenblieb, wie Helmut Schmidt in einer privaten Diskussion mit »Gruppe 47«-Autoren »auch jene kränkte, die sich nur selten in das Gespräch einmischten''; wie Hans Magnus Enzensberger auf einem Schriftstellerkongreß in Leningrad dank seiner Eloquenz und seines »damals sehr modischen Pepita-Anzugs« Richter die Schau stahl; wie Uwe Johnson erst auftaute »wenn wir beim zweiten Kasten Bier angekommen waren« - Richter erzählt es, plaudert es aus.
Leider hat er sich nicht mit Erzählen und Ausplaudern begnügt. Er versucht, die Kollegen, von denen er erzählt, auch zu beurteilen, ihr Wesen zu analysieren. Und dazu reichen die Fähigkeiten des »Gruppe 47«-Patrons, der als Schriftsteller hinter vielen der von ihm patronisierten Autoren zurückblieb, nicht aus.
Günter Graß ist ihm »auf der einen Seite sehr nah... und auf der anderen Seite fremd«. Uwe Johnson war ihm »fremd und war es doch nicht«. Martin Walser blieb ihm »fremd und ich ihm wohl auch«. Und »nie« hat er sich »in den Charakter Heinrich Bölls hineinversetzen können«. Wolfdietrich Schnurre ist für Richter »nicht nur ein Schriftsteller, sondern mehr als das: ein Original«.
Anspruchsloser noch treibt es Richter in seinem Erinnerungsbuch mit der deutschen Sprache. Über Anderschs Entfremdung von der Bundesrepublik: »Der Berg in der Schweiz, auf dem er lebte, hatte sich wohl zu einer Schallmauer für ihn ausgewachsen« Über den Kritiker Joachim Kaiser: »Ich weiß nicht, ob er je auf einem festen Fuß hinsichtlich einer politischen Überzeugung stand« Über Graß als Koch: »Als Walter Höllerer Hochzeit feierte, richtete er die ganze Hochzeit essensmäßig aus«
Was auch immer man von den literarischen Leistungen der »Gruppe 47« halten mag: Das hat sie nicht verdient. Ein Lektor hätte da eingreifen müssen - gnadenmäßig. Rolf Becker _(Oben erste Reihe: Walter Jens, Walter ) _(Höllerer, Peter Weiss, Weiss-Ehefrau ) _(Gunilla, Uwe Johnson; )
Hans Werner Richter: »Im Etablissement der Schmetterlinge«. CarlHanser Verlag, München; 288 Seiten; 34 Mark.Oben erste Reihe: Walter Jens, Walter Höllerer, Peter Weiss,Weiss-Ehefrau Gunilla, Uwe Johnson;