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Vom Abtanzball zu El-Fatah

SPIEGEL-Redakteur Christian Schultz-Gerstein über Margarethe von Trottas Film »Die bleierne Zeit« Der neue Film der Regisseurin Margarethe von Trotta ist der deutsche Beitrag auf der diesjährigen Biennale in Venedig. Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Juliane und Marianne alias Christiane und Gudrun Ensslin. Dennoch ist der Film, in dem Stammheim eine Hauptrolle spielt, kein Film über den deutschen Terrorismus.
aus DER SPIEGEL 38/1981

Die Anklageschriften sind längst archiviert, die Angeklagten seit vier Jahren tot, die dubiosen Umstände, unter denen sie in der Strafvollzugsanstalt Stammheim ums Leben kamen, gelten offiziell als geklärt.

Da könnte ein Film leicht anachronistisch wirken, in dem die weibliche Hauptfigur sich mit der staatlichen Version vom Selbstmord der Marianne Klein alias Gudrun Ensslin nicht abfindet und ihre ganze Lebensaufgabe nur noch darin sieht zu beweisen, daß der Selbstmord nie und nimmer ein Selbstmord war.

Wäre diese Juliane in Margarethe von Trottas neuem Film »Die bleierne Zeit« nur irgendeine vom Verfolgungs- und Verschwörungswahn heimgesuchte Person, die sich kein Unglück dieser Welt ohne die Beteiligung des CIA oder des israelischen Geheimdienstes vorzustellen vermag, dann in der Tat wäre dies ein anachronistischer Film.

Doch Juliane alias Christiane Ensslin ist die Schwester der in Stammheim umgekommenen Marianne, und ihre berserkerhafte Forschung nach der wahren Todesursache ist einfach die menschliche Konsequenz dieser ebenso unmöglichen wie unzerstörbaren Geschwister-Beziehung, die Margarethe von Trottas Film beschreibt.

Kein Film über den Terrorismus also, kein zweiter Teil von »Deutschland im Herbst": Schleyer und Mogadischu und was sonst die gemeinsame Nachkriegsgeschichte der Schwestern vordergründig entprivatisieren könnte, bleibt ausgespart.

Statt politisch zu moralisieren, wie noch in ihrem Film »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (1975), erzählt Margarethe von Trotta hier eine gewöhnliche menschliche Geschichte unter außergewöhnlichen Bedingungen.

Juliane lebt mit ihrem Freund, einem Architekten, in bürgerlichen Verhältnissen. Sie arbeitet als Redakteurin bei einer feministischen Zeitschrift; in einer Szene sieht man sie als engagierte Rednerin auf der Straße um Unterschriften gegen den ¿ 218 werben, wenn sie dabei die Hand zur Faust zu ballen versucht, spannt sich indes kein Muskel zur großen kämpferischen Pose.

Ihre Schwester Marianne ist, voll Verachtung für politische Klein- und Knochenarbeit, in den Untergrund gegangen, hat ihren Freund Werner (alias Bernward Vesper) und den gemeinsamen Sohn verlassen.

Die einzige Normalität, die es fortan in ihrem Leben noch gibt, der letzte Anhaltspunkt dafür, nicht nur ein konspirativer Deckname und eine zugunsten des bewaffneten Kampfes ausgelöschte persönliche Existenz zu sein, die einzige Erinnerung ans eigene Leben ist eben die Beziehung zur Schwester Juliane.

Ihr schreibt sie anhängliche Briefe aus Beirut, von der Guerilla-Ausbildung bei El-Fatah: Sie habe all ihre Sachen abgegeben, und ein komisches Gefühl sei es ja schon gewesen, sich auch von den Kosmetika zu trennen. S.227 Um Juliane zu sehen, die sie wegen ihrer bürgerlichen Lebensumstände verbal verachtet, nicht ohne in deren Kleiderschrank nach chicen Klamotten zu wühlen, taucht Marianne gelegentlich aus dem Untergrund auf.

Während die Schwestern dann in einem Cafe über dem Streit kollidieren, ob feministische Alltagsarbeit oder Untergrundkampf wichtiger sei, während sie so in zäher Unversöhnlichkeit aneinanderkleben, verstummt ihr Gespräch jählings beim Anblick des Kaffees, auf dem sich mittlerweile eine faltige Haut gebildet hat: die ewige Haut auf dem Kakao, den sie zu Hause als Kinder im Pfarrhaushalt erst anrühren durften, wenn der Vater das leidige Tischgebet gesprochen hatte. Die erwachsenen Schwestern lächeln, kichern, erlöst und ertappt zugleich, sie legen die Hände aufeinander, ein abrupter Schnitt beendet das Treffen.

Die Rückblenden in die geschwisterliche Kindheit sind in Margarethe von Trottas Film nicht sentimentale Erinnerungen ohne Beziehung zu den gegenwärtigen Personen; sie sind auch nicht Versuche, den Weg der Terroristin Gudrun Ensslin und den geduldigeren, widerstandsfähigeren Weg der Schwester biographisch zu erklären.

Wenn Juliane die inzwischen verhaftete Schwester im Gefängnis besucht und während des Wartens im kahlen Besuchsraum auf die Backsteinmauern der Anstalt blickt, dann erinnert sie sich nicht, sondern wird physisch ereilt vom Anblick jenes Kirchengemäuers, an dem sie einst mit Marianne Handstand geübt hatte.

Und als Marianne im Hungerstreik ihre geistigen Kräfte zur Selbstbehauptung gegen die körperliche Schwächung mobilisiert, da sind es nicht RAF-Parolen, sondern die zu Hause mit der Muttermilch eingesogenen Bibel-Sprüche, »diese Scheiß-Bibel-Sprüche«, die ihr Bewußtsein instinktiv zur Selbsterhaltung aufbietet.

Von der dramatischen Gegenwart der Vergangenheit lebt der Film »Die bleierne Zeit«.

Im Gegenschnitt zur Momentaufnahme, die Marianne in Beirut zeigt, der Tanzstunden-Abschlußball der Schwestern: artige Kavaliere mit rebellischer Elvis-Tolle und im gehorsamen Pflicht-Anzug, hilflos steife Jungen-Gesichter, die in verbissener Abwesenheit die gelernten Lektionen nachtanzen und mit hölzernen Armen an den Damen Takt und Manieren vollstrecken. Die Erwachsenen sind von derselben forcierten Fröhlichkeit, mit der auch die Combo spielt, als müßte sie etwas überspielen. Dieser lautstarke menschenleere Abschlußball -- ein Druck-Kessel.

Ein Druck-Kessel wie die Schule und das Elternhaus, wo der Vater mit hermetischer Strenge gegen die Jeans von Tochter Juliane vorgeht, als wollte S.229 er die göttliche Ordnung retten, die der Krieg gerade zerstört hatte.

Nur wenn die Schwestern unter sich sind, draußen beim Spielen oder abends im gemeinsamen Zimmer beim Reden über Tod und Lebenssinn, nur dann --, sonst gibt es keine entspannten Momente in dieser gewöhnlichen Nachkriegskindheit.

Im Konfirmationsunterricht des Vaters sehen Juliane und Marianne einen Dokumentarfilm über die Konzentrationslager. Totenschädel werden nebeneinandergelegt, Leichen mit dem Bagger in eine Grube geschoben, eine junge Frau, nackt und abgemagert, wird von den Alliierten befreit -- sie ist gerade über der Schulter des Soldaten verendet. Marianne flieht entgeistert in den Waschraum, wenig später kann auch die widerspenstigere Juliane nicht länger hingucken. Die fassungslosen Schwestern vor den gekachelten Wänden des Waschraums, allein gelassen mit dem unerträglichen Film, hilflos fallen sie sich in die Arme.

Je länger Mariannes Haft andauert, je mehr die Haft- und auch die Besuchsbedingungen verschärft werden, so daß die Schwestern sich nur noch durch eine Trennscheibe sehen, nur noch über Mikrophone miteinander reden dürfen, je weiter die Beziehungsmöglichkeiten zusammenschrumpfen, desto breiter dehnt sich in Juliane die Vergangenheit aus: der letzte, durch keine Kontaktsperre zerstörbare menschliche Zugang zur Schwester.

Unterdessen verkümmert ihr gegenwärtiges Leben mit dem Freund. Juliane schreibt Briefe an Marjanne, sie packt Pakete mit den von der Schwester angeforderten Sachen, sie reist nach langer Zeit wieder mal nach Hause und überredet die Mutter, Marianne mit ihr im Gefängnis zu besuchen, sie ist unterwegs bei einer befreundeten Ärztin, um zu erfahren, wie lange ein Mensch Zwangsernährung psychisch durchhalten kann, sie führt sich selber ein Katheter ein, sie muß wissen, wie Marianne sich fühlt: Juliane ist für den Freund unerreichbar geworden.

Nach Mariannes Tod setzt Juliane das Bündnis mit der Schwester nun endgültig als ein Bündnis gegen den Rest der Welt fort, der Welt, die noch die Leichen ihrer Gegner fürchtet und Mariannes Sarg mit Hunden und Maschinengewehren bewacht: Juliane macht sich auf die einsame Suche nach den »Selbst-Mördern« ihrer Schwester.

»Die bleierne Zeit« ist ein Film, der niemanden ins Recht und niemanden ins Unrecht setzt, er ist eine von der Regisseurin und den Darstellern intuitiv nachempfundene Tragödie, eine Tragödie freilich, die nicht überirdische Himmelsmächte gewebt haben.

In den Hauptrollen spielen Jutta Lampe (Juliane) und Barbara Sukowa (Marianne). Was sonst noch eine Hauptrolle spielt, der bombensichere Bunker von Stammheim etwa, stellt sich selbst dar.

S.226Mit Jutta Lampe und Barbara Sukowa.*

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