TECHNIK / VIER-KANAL-STEREO Vom Beat umzingelt
»Ich habe die Zukunft gehört«, begeisterte sich William Anderson, Herausgeber der Fachzeitschrift »Stereo Review«, »und es funktioniert.«
Der Experte sprach von einem akustischen Abenteuer, das ihm die Techniker der US-Phonofirma Vanguard Records bereitet hatten; Zum erstenmal ertönte »der Klang, der den Hörer umspült« -- nach einem neuartigen »Rundum-Stereo«-Verfahren« aus vier getrennten Tonkanälen.
Ein gutes Jahrzehnt lang galt den Pop- und Klassik-Fans stereophone Musikwiedergabe als das Größte Beet oder Beethoven, von mindestens zwei Mikrophonen aufgenommen, in zwei getrennten Tonspuren auf Band oder Platte gespeichert und schließlich über zwei gesonderte Kanäle durch Lautsprecher (oder Kopfhörer) abgespielt.
Nun haben die US-Techniker dieses Tonverfahren, das nach dem Vorbild der beiden menschlichen Ohren räumliches Hören nachahmt, schlankweg verdoppelt. Und sie bewiesen, so jedenfalls umschrieb es das Nachrichtenmagazin »Time«, »daß vier Ohren doppelt so gut sind mindestens«. Seit vier Wochen sind die ersten vierspurig bespielten Tonbänder von Vanguard Records auf dem Markt. Und Mitte letzten Monats vermittelte auch die renommierte High-fidelity-Firma Acoustic Research das neue Hörerlebnis erstmals öffentlich: in New Yorks Grand Central Station.
Neuartige Klangerlebnisse, vor allem eine noch intensivere Räumlichkeit, werde die von Vanguard entwickelte Aufnahme- und Wiedergabetechnik bei klassischer Musik vermitteln, erklärte Firmenpräsident Seymour Solomon. Aber vor allem eigne sich das Verfahren für Pop-Musik, bei der elektronische Tontricks schon längst als eigenständiges Stillmittel eingesetzt werden. Mit vierkanaligem Rundum-Schall könne man »die Leute nun endgültig verrückt machen -- sie werden vom Beat umzingelt«.
Die superstereophonen Klang-Kaskaden werden vorerst nur von Tonbändern erdröhnen. Weder Vanguard noch den übrigen US-Firmen, die mit Vier-Kanal-Stereo für Hörer im Heim experimentieren (darunter auch Columbla Masterworks und die Telex Corporation), ist es bislang gelungen, alle vier Tonspuren in der Rille einer Schallplatte nach einer für die Massenproduktion geeigneten Methode zu speichern.
Die Anfangsphase der Stereophonie bei der nur zwei Mikrophone auf dem Konzertpodium standen, hatten zumindest die Aufnahme-Techniker schon längst überwunden. Bei Opern-Aufnahmen beispielsweise wird das Klangprodukt zunächst vielfach unterteilt: Je zwei Mikrophone etwa belauschen die Streicher rechts und links vom Dirigentenpult, die Bläser, den Chor und die Solisten gesondert.
In den Aufnahmegeräten der Studio-Techniker bleibt diese Vielfalt von (bis zu 24) getrennten Tonspuren noch erhalten -- aber für handelsübliche Stereo-Platten oder -Bänder muß der Klangzauber auf zwei Spuren zusammengemischt werden. Daß dabei ein Teil der Original-Klänge wieder verlorengeht, schien unvermeidlich.
Beim Vier-Kanal-Stereo hingegen bleiben nun vier Tonspuren mit unterschiedlichen Klang-, Hall- und Echomischungen erhalten. Sie müssen dementsprechend über vier Tonkanäle abgespielt werden aus vier Lautsprechern in allen Ecken des Raumes.
Pfiffige Ohrengaukeleien sind damit möglich. »Steptänzer klappern quer durchs Wohnzimmer und hinaus in die Küche«, so schilderte »Time« die Klangeffekte, »Wagner-Walküren schwirren ums Haus wie dickbusige Moskitos«.
Die US-Firma Acoustic Research will zunächst vornehmlich moderne E-Musik nach dem Doppelstereo-Verfahren produzieren. »Wir sollten nicht Klassiker wie Beethoven als Drei-Manegen-Zirkus aufführen«, erklärte AR-Sprecher Robert Berkovitz, »wir haben unsere eigenen Beethovens.« So komponierte der Amerikaner Milton Babbitt »Philomel« als Vier-Kanal-Stereo-Stück, und auch Karlheinz Im West-Berliner Beatclub »Cheetah«
Stockhausen hat für das neue Elektronik-System vorgearbeitet.
Die Pionierfirma Vanguard entdeckte allerdings doch passende historische Musik. Von einem der ersten »Quadrisonic«-Bänder, die jetzt auf den Markt kommen, ist das »Requiem« von Hector Berlioz zu hören. Der französische Klangkünstler hatte schon im vorigen Jahrhundert vierkanalig komponiert: Vier einander gegenüberstehende Chöre und Instrumentalgruppen zelebrieren die Totenmesse im Wechselspiel.