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GISELA ELSNER Vom Fleisch und Blut

aus DER SPIEGEL 18/1964

Es war am Wannsee zu herbstlicher Abendstunde, als sich Gisela Elsner, 25jährig, nach gerade zu Ende gegangener Ehe mit dem Schriftsteller Klaus Roehler vor einer teils schaudernden, teils staunenden, teils grinsenden »Gruppe 47« als ausgewachsene Schriftstellerin entpuppte.

Ungerührt, mit steter Stimme, in knappen, kühlen Sätzen, las die Nürnberger Jungautorin ihre Geschichte von den sieben schrecklichen Kindern, die ihre Eltern ans Bett und aneinanderfesseln, um zu studieren, was sich bei der Zeugung des achten tut.

Was die Debütantin mit dem Kleopatra-Look, selber Mutter eines Sohnes, damals im Oktober 1962 zum besten gab, war manchem süffigen 47er des Guten zuviel. Für den Gruppengast Heinrich Maria Ledig-Rowohlt aber konnte sich nichts Bessere bieten: Ohne Zaudern sicherte er sich das neuentdeckte Talent für sein Reinbeker Verlagshaus.

Nun kann, wer Lust hat, die Geschichte vom »achten« nachlesen, und noch neun weitere Kapitel dazu. Das Buch, nicht ganz Roman, nicht ganz Erzählungsband, sondern laut Untertitel schlicht »ein Beitrag«, nennt sich »Die Riesenzwerge« (nicht zu verwechseln mit den 1960 erschienenen Roman »Gartenzwergen« der Rowohlt-Autorin Ingeborg Wendt)*.

Beigetragen hat Gisela Elsner damit zumindest ein neues erzählendes Gör zu den Zazies und Oskar Matzeraths der zeitgenössischen Literatur. Denn auch ihr Lothar Leinlein, so wenigstens versichert die Autorin, ist noch klein - so klein, daß er gerade bis zehn zählen kann und demzufolge nicht einmal das schulpflichtige Alter erreicht hat.

Doch auch so bereits sieht er die Welt mit den Augen einer ramponierten Beckett-Figur, und er beschreibt sie wie ein zweiter Robert Neumann, der die Beschreibungs-Manie eines Robbe-Grillet parodieren möchte.

Als er noch kleiner war, entsinnt sich der Knabe Lothar Leinlein, ist ihm auf höchst surrealistische Weise sein erster Vater verlorengegangen: Der hatte, Lehrer seines Zeichens, eines Sonntagmittags im Restaurant versäumt, den Oberlehrer zu grüßen. Es kam zum Skandal, zu einem Menschenauflauf und schließlich zur Keilerei, und da die übrigen Gäste ohnehin hungrig, ungeduldig und wütend waren; weil kein Essen kam, rissen sie den Lehrer in Stücke und fraßen ihn auf.

Seitdem hat Lothar seinen zweiten Vater: den Oberlehrer. Er ist ein besonders gelungener Riesenzwerg, ein beamteter Spießbürger, Vielfraß und Sadist à la George Grosz, der sich bei trivialsten Gelegenheiten - etwa wenn Mutter Leinlein ihm einen Knopf an den Hemdkragen näht - zum monströsen Unmenschen aufbläht.

Auch die anderen Typen des Buches kommen nicht besser weg, sobald der kindliche Beobachter sie mit seinem durchdringenden Haßblick erfaßt. Wenn Elsners Lothar, eine verfeinerte, intellektualisierte Jakov-Lind-Figur, seiner Mutter bei der Zubereitung des Sonntagsbratens zusieht, dann verdirbt er manchen Appetit. Manches Mitleid vertreibt er, wenn er einem bösartigen Kriegskrüppel zuschaut, wie der seine' Mitwelt schikaniert.

Ob Lothar seine erwachsenen Zeitgenossen beim Massenpicknick im Grünen ("Dieser Wald ist besetzt") oder bei einer Hochzeitsgesellschaft beobachtet, ob er mit seiner Großmutter eine Trinkerheilanstalt besucht, einen massenhaft Würste verteilenden Metzgermeister beim abscheulich-grotesken Berufsjubiläum karikiert oder vom Hausarzt der Leinleins erzählt, der mit seinen vier bissigen, (und tatsächlich auch fleißig zubeißenden) Hunden durch die Straßen hetzt und die Gebissenen danach in der Sprechstunde verarztet -

die ihn umgebenden Riesenzwerge erweisen sich immer als potentielle KZ -Schinder oder als deren willfährige Opfer.

Was Gisela Elsner zusammen mit ihrem Lothar da treibt, ist gewiß mehr als Gesellschaftskritik; es ist ein unappetitlicher und bitterböser Haßgesang auf die Gesellschaft im allgemeinen und die Familie im besonderen, durchwoben vom Geruch nach rohem Fleisch und dampfendem Blut und etwa so schaurig-interessant wie ein illustrierter »Hausarzt« in der bürgdrilchen Büchervitrine.

Tatsächlich hat es die Elsner auch nicht an einem vier Seiten langen medizinischen Exkurs über Leben und Wirken des Bandwurms, des sogenannten Schmalen oder Gemeinen wie auch des sogenannten Schwarzen, fehlen lassen. Ein solcher Bandwurm nämlich, schmal oder schwarz, gedeiht als eine Art Graß'scher Aal-Ersatz im kleinen Lothar Leinlein.

Und auch sonst sprießt Graß in Leinleins Erzählungen, so in seiner Sprache, die sich effektvoller Satzhälften («,Kind', sagte meine Mutter, ,du machst mich!'") und grotesker Konstruktionen bedient («,Gaff', zischte meine Mutter mir ins Ohr, ,diesen Herrn nicht so an.'").

Elsnerhaft-originell wird es, wenn die Riesenzwerge ihr Alltagsgewäsch, ihre Redensarten und ihre stereotypen Wiederholungen von sich geben: »,Vater', frage ich meinen Vater, den Oberlehrer, weil ich weiß, daß er es weiß, welche Zahl kommt nach zehn?' - ,Beim Essen', spricht mein Vater beim Essen, 'spricht man nicht.'«

Solche Stilmittel, zu Beginn durchaus reizvoll, sind rasch abgenutzt. Die anfangs so kunstvolle Monotonie wandelt sich unversehens zur Masche, der Rest ist ein halbes Buch voller Langeweile.

* Gisela Elsner: »Die Riesenzwerge. Ein Beitrag«. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg; 304 Seiten; 18,30 Mark.

Autorin Gisela Elsner »Kind, du machst mich!«

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