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PHILOSOPHIE Vom tierischen Mitgefühl

Können Affen zwischen Gut und Böse unterscheiden? Warum der Primatenforscher Frans de Waal mit seiner Moraltheorie überzeugt. Von Richard D. Precht
aus DER SPIEGEL 41/2008

Precht, 43, lebt als freier Wissenschaftspublizist in Köln. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?«

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Am Anfang war der schnauzbärtige Mann nur einer von vielen in den wirren siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Menschenaffen waren in Mode. Die gelernte Sekretärin Jane Goodall berichtete Faszinierendes über die Schimpansen vom Gombe-Strom in Tansania. Die Ergotherapeutin Dian Fossey war bei den Gorillas in Ruanda. Und in den Menschenaffen-Forschungslabors an amerikanischen Hochschulen machte man Schimpansen und Bonobos von der menschlichen Psyche abhängig und maß ihr Sprachtalent am menschlichen Maßstab. Die Versuche waren unzumutbar, nicht nur für die Affen.

Frans de Waal war einer der Ersten, die merkten, dass es so nicht ging. Er untersuchte das Verhalten von Schimpansen nicht in der Menschenwelt, sondern beobachtete die Tiere im Umgang miteinander. Seit fast 20 Jahren ist der gebürtige Niederländer Professor für Psychologie in Atlanta. Er ist der renommierteste Primatologe der Welt. Seine Bücher sind eine publizistische Erfolgsgeschichte. Doch was hat er uns zu sagen?

Ziemlich wenig, sollte man meinen. De Waal hat eine unter sehr wenigen Theorien vom Ursprung der menschlichen Moral entwickelt, aber die Philosophen schweigen dazu. Sie stellen sich taub, auch wenn der Verhaltensforscher sich inzwischen unüberhörbar als Philosoph zu Wort meldet.

Umso bemerkenswerter ist die Auseinandersetzung, die der Primatologe im Winter 2003/2004 im Rahmen einer Vorlesungsreihe an der Universität Princeton mit hochrangigen Vertretern der Wissenschaft führte und die jetzt auf Deutsch vorliegt*. Sie bestätigt: De Waal hockt zwischen allen Lehrstühlen. So fremd er unter Moralphilosophen ist, so heimatlos erscheint er zugleich unter philosophierenden Biologen.

De Waals provozierende These hat ein freundliches Antlitz: Der Keim zum Guten

im Menschen ist eine alte Geschichte aus dem Tierreich, entstanden aus der Geselligkeit. Konfliktlösung stand am Anfang, Mitgefühl und Fairness kamen später dazu. Vom sozialen zum moralischen Tier war es ein kleiner Schritt, oder besser: eine Abfolge von kleinen Schritten. Die Paviane und mehr noch die großen Menschenaffen zu verstehen bedeutet, die Wurzel unserer Moral zu entdecken: in Kooperation und Trösten, Dankbarkeit und Gemeinschaftssinn.

Wie eine Matroschka schichtet sich de Waals Modell der moralischen Evolution. Im Innersten versteckt ist der emotionale Reflex, ausgelöst durch das Verhalten anderer. Er findet sich nahezu überall bei höheren Tieren. In der Mitte liegt die Empathie, die Fähigkeit, die Emotionen eines anderen einzuschätzen, einschließlich seiner Gründe. Menschenaffen seien dazu in der Lage und Menschen. Die äußerste Schicht ist die Kunst, in vollem Umfang die Perspektive eines anderen einzunehmen. Nur sie ist exklusiv menschlich.

So weit, so nachvollziehbar - und so verfänglich. Denn so harmlos diese Idee erscheint, von zwei Fronten hagelt es Kritik. Gegner sind sowohl die Vernunftphilosophie, die nur den Menschen als moralisches Wesen gelten lassen will, wie auch die bis ins Mark amoralisch denkende evolutionäre Psychologie. Für Erstere ist de Waal ein »Naturalist«, für Letztere ein gefühlsduseliges Weichei.

Biologen mit einem positiven Menschenbild gibt es wenige. Der Humanist Charles Darwin war eher die Ausnahme als die Regel. Seit dem Siegeszug des »Darwinismus« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist es ein beliebter Sport unter den Psychologen der Evolution, alles Sympathische am Menschen schlechtzureden und zu eliminieren.

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war alles Kampf, Gemetzel und Auslese - die Folgen dieses Antihumanismus sind Geschichte, vom Ersten Weltkrieg bis zur nationalsozialistischen Ideologie. In ihrer zeitgenössischen Spielart ist die Evolution heute Globalkapitalismus. Und in den Lehrbüchern der evolutionären Psychologen geht es zu wie im Ökonomieseminar. Vom Kosten-Nutzen-Kalkül im Miteinander ist die Rede, von Investitionen in den Nachwuchs, von Risikostrategien bei der Partnerwahl. Kaum ein moderner Evolutionspsychologe, der nicht glaubt, was wir glauben sollen: dass ausgerechnet die Wirtschaft der Biologie die Spielregeln vorgibt.

De Waal dagegen ist ein großer Kapitalismuskritiker der Evolutionstheorie. Wahrscheinlich ihr wichtigster. Ein Humanist unter Raubtierwärtern, kennt der Niederländer keine egoistischen Gene und kein Prinzip Eigennutz als vermeintliche Motoren der menschlichen Evolution. »Der Mensch ist des Menschen Wolf?« - das beleidigt allenfalls die sozial vorbildlichen Wölfe. Dem miesen Menschenbild seiner Zunft setzt de Waal Mitleid, Einfühlung, Interesse und Selbstlosigkeit bei Menschen und Menschenaffen entgegen.

Worte wie diese provozieren die Biologen der Psyche. Seit hundert Jahren passen sie nicht mehr in den Zoo ihrer Begriffe. Man kann auch sagen: zu viel Seele, zu wenig Reflexe, zu viel netter Darwin, zu wenig unfreundlicher Darwinismus. Doch von de Waal lernen wir: Ohne »moralische Empfindungen«, die wir mit Menschenaffen teilen sollen, ist die menschliche Moral schlichtweg unerklärlich. Ohne Gefühle weiß auch unsere Vernunft nicht, was Gut und Böse ist.

Jede andere Erklärung der moralischen Natur des Menschen verwirft de Waal als »Fassadentheorie«. Wir sind keine moralisch lackierten Gartenzwerge.

Den Weg der Moral können wir an unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, zurückverfolgen. Wenn Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans so handeln, als wären sie gut, warum sollen sie es dann nicht auch sein?

Gibt es »gute« Affen? Die Moralphilosophen reagieren so aufgeschreckt, als legte der Niederländer ihnen unter dem Tisch die Hand ans Knie. Ist die Fähigkeit zum Guten nicht der von Kant formulierte exklusive Verfassungsauftrag des Menschseins? Sind wir nicht die Einzigen, die ein »Sollen« in uns spüren und nicht nur ein »Wollen«?

Philosophen müssen sich von Tieren fernhalten, zumindest theoretisch, das bedauerte schon Albert Schweitzer. Wie die Hausfrau, die ihren Fußboden gescheuert hat, darauf achtet, dass ihr der Hund nicht durch die gute Stube läuft, so achteten die Philosophen darauf, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen. Sie meinen zu wissen, dass Tiere eines bestimmt nicht haben: Intentionen. Der philosophische Maßstab für die Moral lautet dann: Können Menschenaffen etwas mit Absicht tun? Und können sie diese Absicht reflektieren?

Das Unzeitgemäße an dieser Messlatte: Wir wissen, dass sie zu hoch hängt. Nicht mal beim Menschen können wir »Intentionen« wasserdicht beweisen. Das Fehlen von Beweisen ist noch lange kein Beweis für das Fehlen. Nicht ohne Witz ist auch, dass Hirnforscher, die unsere menschliche Willensfreiheit untersuchen, heute das Gleiche fragen: Können Menschen etwas mit Absicht tun? Mit einer Absicht auf der Grundlage freier Auswahl, versteht sich. Kann ich wollen, was ich will?

Die Situation ist bizarr. Während viele Hirnforscher die menschliche Vernunft in Affekte zerlegen wie ehedem die Behaviouristen die Tierseele, legen Philosophen noch immer den Kantischen Maßstab für die menschliche Wertegemeinschaft an: Intentionalität, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung. Tatsächlich aber messen wir Menschenaffen gar nicht am alltäglichen Verhalten von Menschen, sondern an der Fähigkeit, Normen zu formulieren. Eine Fähigkeit, von der nur die wenigsten Zeitgenossen Gebrauch machen. Nicht Menschen sind der Maßstab für die Vernunft der Tiere, sondern Moralphilosophen!

Der Mensch, der keine biologische Sonderanfertigung mehr ist, soll eine moralische Sonderanfertigung bleiben. Von de Waal aber lernen wir: Selbst wenn es stimmt, dass die moralischen Fähigkeiten des Menschen einzigartig sind, so sind sie doch nicht einzig. Schimpansen »gut« sein zu lassen bedeutet nicht, die menschliche Sonderbegabung zu verleugnen.

»Kratz einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten!« lautete das sagenhafte Credo von Michael Ghiselin, dem Erfinder der »evolutionären Psychologie«. De Waals lange Erfahrung mit Menschenaffen macht ihn zu einem besseren Philosophen. Sie bewahrt ihn davor, uns als schlecht getarnte Bestien zu beschreiben und den Psychopathen als Normalfall. Die Moral ist keine freundliche Tünche auf unserer bösen Natur. Denn was sollte uns dieser widernatürlich alberne Anstrich? Der Schwarm von Piranhas, der freiwillig beschließt, vegetarisch zu werden, muss erst noch gefunden werden.

Nach de Waal ist der brutale Widerstreit zwischen unserer bösen animalischen Natur und dem zarten Anstrich der Zivilisation, der noch Sigmund Freuds Irrtümer beflügelte, eine Schimäre, eine bequeme Illusion abendländischen Denkens.

In der Tiefe unseres Herzens mögen wir vielleicht nicht unbedingt »gut« sein, aber in unserer tierischen Natur steckt etwas von der Seele der Zwergschimpansin Kuni im englischen Twycross-Zoo: Nachdem sie einen Vogel mit der Hand gefangen hatte, kletterte sie auf die Spitze des höchsten Baums, entfaltete die Flügel des Vogels und warf ihn in die Luft. Die Schimpansin konnte nicht fliegen, wie sollte sie wissen können, was Fliegen ist? Trotzdem versuchte sie, dem Vogel eine neue Chance zu geben, beschwingt von einer ganz natürlichen Regung: Mitgefühl.

* Frans de Waal: »Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte«. Carl Hanser Verlag, München; 224 Seiten; 19,90 Euro. * Stich aus dem Jahr 1791.

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