ANTHROPOLOGIE Von den Bäumen
Das zierliche Geschöpf lebte in einer Art Safari-Land, an einem See der ostafrikanischen Grassteppe. Es starb aber, arthritiskrank, schon mit etwa 20 Jahren -- vor rund drei Jahrmillionen.
»Lucy in the Sky with Diamonds« -- der LSD-Song der Beatles -- plärrte aus dem Kassettenrekorder, als US-Forscher Donald Carl Johanson im November 1974 die Gebeine fand und barg. So kam das weibliche Wesen, das nur 1,10 Meter groß geworden war, zu seinem Namen.
Von Lucys Skelett sind, geschützt durch Schichten von Vulkanauswurf, immerhin 40 Prozent erhalten. Gleichwohl erfordert die Rekonstruktion ihrer Gestalt kriminalistische Mühe.
Erst jetzt konnte Johanson, Professor für Anthropologie in Cleveland (Ohio), den Befund veröffentlichen: Lucy hatte einen affenartigen Schädel mit kräftigen Eckzähnen im primitiven Gebiß; aber ihr Körper war durchaus menschenähnlich, und sie ging aufrecht.
Sie und ihre Artgenossen, erklärten Johanson und sein Kollege Dr. Timothy D. White von der University of California letzte Woche in der Wissenschaftszeitschrift »Science«, seien mithin als ein Urgeschlecht der Hominiden anzusehen -- jener zweibeinigen Säuger, deren weitere Evolution den Menschen hervorbrachte.
»Lucy«, interpretierte das US-Magazin »Newsweck«, »ist eine der engsten je entdeckten Verwandten von Eva.«
Ihretwegen, meinen Johanson und White, müsse die menschliche Ahnengalerie wieder einmal neu geordnet werden (siehe Graphik): Die Entwicklungslinien zum Homo sapiens und zu den Menschenaffen hätten sich erst vor viel kürzerer Zeit getrennt, als bisher angenommen wurde.
Der Hominiden-Stammbaum wird vielleicht für immer voller unübersichtlicher Verzweigungen bleiben. Denn er trägt viele tote Äste -- keine der mit dem Menschen am nächsten verwandten Spezies überlebte; ihre Spuren werden nur durch Zufall gefunden.
Sicher ist, daß ein (im Unterschied zu Halbaffen und Affen) schwanzloser Primat vor wohl zwölf Millionen Jahren einen entscheidenden Evolutionsschritt tat: Als sich damals die Wälder lichteten und Savannen ausbreiteten, stellte dieses etwa ein Meter große äffische Wesen -- wie sein Gebiß erweist -- seine Ernährung auf Körner und Wurzeln um. Der Ramapithecus, von dem Fossilien in Europa, Afrika und Asien gefunden wurden, ging also von den Bäumen auf den Boden.
Wie der Weg zu den echten Zweibeinern weiter verlief, galt bisher als ungewiß. Die Funde aus dieser Periode sind zu dürftig.
Erst der »Homo habilis«, dessen Relikte das berühmte Anthropologen-Ehepaar Mary und Louis 5. B. Leakey in Ostafrika entdeckte, hantierte vor rund zwei Millionen Jahren mit planvoll zugerichteten Schlagsteinen, Kratzern und Schabern und überschritt damit die Schwelle zur ersten Kultur.
Der »Homo erectus«, dessen Gehirn-Volumen mit der Zeit von 900 auf 1100 Kubikzentimeter zunahm (die durchschnittliche Hirngröße jetzt lebender Menschen beträgt 1400 Kubikzentimeter), wußte sich dann spätestens vor 500 000 Jahren das Feuer nutzbar zu machen. Er gilt als direkter Vorfahr der höchstentwickelten Menschen.
Als »missing link«, als bisher fehlendes Verbindungsglied, wollen nun Johanson und White das Affenmensch-Wesen Lucy und ihre Sippschaft in die Evolutionslücke nach dem Ramapithecus einsetzen.
Die US-Forscher belegen ihre Ansicht mit mehr als 350 Knochen und Schädelfragmenten von insgesamt 57 weiblichen und männlichen, jungen und erwachsenen Individuen. Alle diese Wesen, die in der Zeit von 3,8 bis 2,6 Millionen Jahren vor der Gegenwart in einem weiten Bereich Ostafrikas lebten, gehören nach ihrem Urteil einer eigenständigen Spezies an, die sie nach dem Fundplatz in der äthiopischen Afar-Region »Australopithecus afarensis« nennen.
Als »Australopithecus« (Süd-Affe) hatten die Anthropologen bislang Hominiden bezeichnet, die von der Entwicklung zum Menschen abgekommen waren: Ein graziler Typ ("africanus") schlug sich wahrscheinlich als Jäger durch, die gröbere Variante ("boisei") war mutmaßlich mehr Vegetarier.
Den Afar-Affenmenschen rücken Johanson und White noch weiter in den Zwitterbereich zwischen Tier und Mensch. Da er aber vor drei Millionen Jahren lebte, sei die Gabelung zwischen Hominiden und Menschenaffen nicht vor 15 bis 20 Millionen Jahren anzusetzen (SPIEGEL 2/1978), sondern allenfalls vor acht Millionen Jahren.
Viele Anthropologen, darunter Mary Leakey und ihr Sohn Richard, der ebenfalls vor- und frühmenschliche Spuren in Ostafrika verfolgt, sind noch skeptisch. Gestützt wird die These von Johanson und White hingegen von Biologen, die auf ganz andere Weise als durch Vergleiche von Knochen den Gang der Evolution aufzuklären suchen.
Die Eiweißstoffe im Körper jetzt lebender Menschenaffen und des modernen Menschen, fanden diese Forscher, sind sich verblüffend ähnlich. Nach ihrer Schätzung könnten sich die Entwicklungslinien der Hominiden und ihrer äffischen Vettern sogar erst vor fünf Millionen Jahren getrennt haben.