BUCHMARKT Von Mao gelernt
Früher wurden von dem 1000 qm großen Lagerhaus Hahnstraße 54 bis 56, im Frankfurter vorwiegend mit Bürohäusern besiedelten Niederrad, Bahlsen-Kekse und Schokolade ausgeliefert. Jetzt gibt der »Zweitausendeins«-Versand täglich mehr als 1500 Pakete mit geistigen Spezereien zur Post.
Gegen Vorauskasse oder Nachnahme Jassen sich derzeit etwa 170 000 Stammkunden Bildbände und Comics, Romane von Leonard Cohen und Lyrik von Wondratschek, Bob Dylans gesammelte Songtexte oder Rock-Klassiker aus einem 800-Platten-Angebot einwickeln - allesamt zu Dumpingpreisen und überwiegend, so 2001-Chef Lutz Reinecke, 35, »Sachen, die es woanders nicht gibt«.
Mit diesem Raritätenangebot (teils Importe, teils Restposten auslaufender Buchauflagen, teils selbstverlegte Literatur) hat sich 2001 dieses Jahr nach der Firma Bücher-Büchner in Hannover und dem Stuttgarter Fackelversand (die Buchklubs ausgenommen) auf den dritten Platz unter den bundesdeutschen Kulturgut-Großversendern hochgearbeitet. Umsatz 1976: knapp 20 Millionen Mark.
Der »merkwürdige kleine Versand mit den kleinen Bildern und der winzigen Schrift« (Reinecke) auf ganzseitigen Anzeigen in auflagestarken Blättern erzwang sich in der Verlagsbranche Respekt. Hätte beispielsweise ein normaler Buchverlag alle 20 Jahrgänge der Literaturzeitschrift »Akzente«, 1954 bis 1973, in fünf Leinenbänden nachdrucken wollen, so hätte die Sammlung mehr als 150 Mark kosten müssen. Und wer hätte das schon bezahlt?
Der Außenseiter in Niederrad schaffte das »verlegerische Wunderwerk« (Deutsche Welle) einer 11 900 Seiten umfassenden »Akzente«-Dünndruckausgabe, mit Beiträgen von mehr als 1000 Autoren, zu einem Abgabepreis von 49,90 Mark. Bis heute wurden 30 000 Exemplare geordert.
»Wir können so billig kalkulieren«, erklärt Reinecke, »weil wir an vielen Stellen sparen.« Etwa so: Seinen Prospekt »Das Merkheft"« 96 Seiten stark, den der Sohn eines Buchhändlers aus dem niedersächsischen Sarstedt alle zwei Monate 300 000mal auf Billigpapier drucken läßt, schreibt Reinecke in einer ehemaligen Dorfschule nahe Bad Hersfeld auf einer mechanischen Schreibmaschine nach wie vor mit der Hand.
Sein Partner Walter Treumann, 43, in Niederrad beschäftigt kaum mehr als 40 Packer und Lagerarbeiter. Er läßt Adressenaufkleber von Hausfrauen in Heimarbeit schreiben, macht die Buchhaltung allein und kommt ohne Sekretärin aus. Treumann: »Bei einer normalen Buchkalkulation ergibt der Herstellungspreis mal sechs den Ladenpreis. Bei uns ist es der Herstellungspreis mal zwei.
Kein einziger Vertreter ist für diese Kulturgut-Grossisten unterwegs, kein Zwischenhändler hält die Hand auf. Und da die Anzeigen- und Katalogwerbung nicht an Buch- und Plattenverkäufer, sondern direkt an den Kunden gerichtet ist, kann auch der Erfolg einer Aktion kurzfristig kontrolliert werden. Innerhalb weniger Tage, allenfalls Wochen, kommen die Bestellcoupons zurück.
Eine Mailorder-Firma werde dann rentabel, meinen die 2001-Männer, wenn mit einer einzigen Order möglichst viele Artikel bestellt werden können. Daher stellen Reinecke und seine Mitarbeiter immer wieder »inhaltliche Zusammenhänge« her. 2001-Musikexperte Wolfgang Müller, 26: »Wer eine Platte von Bob Dylan mag, kann die Byrds nicht hassen, und so einer nimmt auch gern mal erotische Beardsley-Zeichnungen oder ein Charles-Bukowski-Buch in die Hand.«
Vor allem im Titel-Sortiment und in der Werbe-Tonart, erklärt Reinecke, liege jedoch sein Erfolgskonzept. Bestseller, so renommiert er, könne 2001 nicht verkaufen, aber beinahe jedes Stück, das er ins Angebot aufnimmt. wird einer: »Wir bieten nichts an, was wir uns nicht auch selbst kaufen würden.« Die traditionellen Buchverlage hätten »eine Klappentextmauer um die Literatur« aufgebaut: »Wir sprechen Umgangsdeutsch.«
2001-Käufer sind denn auch vorwiegend junge Bart- und Jeans-Träger, denen die offizielle Prestige-Kultur fremd geblieben ist. Reinecke liefert mit jedem Buch- und Plattenpaket zugleich einen Hauch Außenseiter-Image und bestätigt das Lebensgefühl der Rock-Generation. Seine Marktlücke ist der ehemalige Underground.
Bis die 2001 -Crew vor kurzem eigene Läden in Frankfurt, Freiburg, Mainz, München und Berlin eröffnete (weitere sind in Hamburg und Düsseldorf geplant) und in Niederrad nun über neun Büros und vier Toiletten verfügt, hat sie eine abenteuerliche Odyssee durch Hinterzimmer, einen ehemaligen Friseursalon, eine alte Eisenwarenhandlung und eine Tiefgarage hinter sich gebracht.
Ursprünglich, nach der Ablehnung einer Gehaltserhöhung beim »Pardon -- Verlag Bärmeier & Nikel, wollte sich Direktionsassistent Lutz Reinecke im Versandgeschäft nur »ein Zubrot« verdienen. Sein »Pardon-Shop«, von Beginn Anzeigenkunde des satirischen Monatsmagazins, bot damals -- 1969 -- ausgefallene Boutiqueartikel wie ein »Deutsch-Russisches Freundschafts-Set« an: ein schwarzrotgoldenes und ein rotes Handtuch mit Hammer und Sichel.
Mit dem Vorsatz, wohlfeiler zu sein, als die Kunden erwarten, verhökerte er sodann Restposten wenig lukrativer Popmusik-Langspielplatten und niveauvollen Bücher-Ramsch. Denn: »Durch Altern wird Gutes nicht schlechter, aber auch nicht teurer.« Binnen kurzem rutschten täglich rund zwei Tonnen Ware auf zweckentfremdeten Kohlenbrettern in den Tiefgaragen-Packraum und mußten, sortiert, wieder zur Post gebracht werden. Reinecke: »Wir brauchten Mitarbeiter mit Kopf und Muskeln.«
Die meisten von ihnen sind immer noch dabei. Denn Reinecke und Treumann zahlen ihren Arbeitern und Angestellten nicht nur gute Löhne; sie legen auch selbst im Lager oft Hand an und sorgen dadurch für Teamgeist. Treumann: »Von Mao haben wir gelernt, daß jeder Offizier wenigstens einen Monat im Jahr wieder als einfacher Muschik dienen muß; das hebt die Moral.«
Weder die Truppe noch das Quartier wollen Reinecke und Treumann künftig noch vergrößern. »Expansion auf Teufel, komm raus!« habe schon manchem das Genick gebrochen, und: »Wir haben jetzt wirklich genügend Geld.« Der Umsatzzuwachs in den letzten Jahren war in der Tat, so Treumann, »beängstigend«.
Während der Buchhandel in der Bundesrepublik 1976 insgesamt nur drei Prozent Plus machen konnte, wuchs der Buchumsatz von 2001 abermals um mehr als 100 Prozent.