NIEREN Von Mensch zu Mensch
Der Assistent schob zwei Klemmen
über die Nieren-Arterie, einen Fingerbreit voneinander entfernt. Dr. Harrison, der Operateur, schnitt die Arterie zwischen den Klemmen durch. Nur einige Tropfen Blut traten aus. Dann durchtrennte der Urologe Vene und Harnleiter, löste die dunkelrot schimmernde Niere aus dem Gewebe und legte sie vorsichtig in ein Becken aus rostfreiem Stahl. Ein Assistent trug das lebenswichtige Organ zum Operationstisch im Nachbarraum.
So begann im Januar des vergangenen Jahres eine Operation, die von den Ärzten als medizin-historische Tat gewertet wird: »die erste gelungene Organtransplantation unter zweieiigen Zwillingen«, wie die Amerikanische Chirurgische Gesellschaft kürzlich verkündete. Die Ärzte des Peter-Bent -Brigham-Hospitals in Boston, wo die Überpflanzung ausgeführt wurde, sind jetzt überzeugt, daß nach menschlichem Ermessen der Patient, der 25jährige John Riteris, ein langes Leben mit der Niere seines Zwillingsbruders Andrew führen kann.
Für amerikanische Zeitschriften ließen sich die beiden »zweieiigen Zwillinge«, die Brüder John und Andrew Riteris, am Strand in Badehosen photographieren, um deutlich sichtbar drei Narben zu präsentieren, die sie bei der Operation, einer der gewagtesten in der Geschichte der Chirurgie, davon getragen haben. Chefchirurg Dr. Joseph Murray vom Peter-Bent-Brigham-Hospital: »Wir hoffen, daß nun der Weg für noch kühnere Organverpflanzungen frei ist.«
Denn bislang galt die fatale Schockwirkung, mit der menschliche (wie auch tierische) Körper auf die Einpflanzung fremder Organe reagierten, als unüberwindliches Hindernis für die Transplantation etwa einer Niere von Mensch zu Mensch. Ursachen dieser gefährlichen Reaktion sind nach Auffassung der Wissenschaftler die sogenannten Antikörper, die Abwehrstoffe, die der Körper produziert, um beispielsweise eindringende Krankheitserreger zu bekämpfen.
Der Körper mobilisiert derartige Abwehrstoffe auch gegen jedes Fremdorgan, das biologisch nicht gleich ist, weshalb sich zum Beispiel nicht einmal Hautteile vom Vater auf sein Kind übertragen lassen, selbst wenn beide die gleiche Blutgruppe haben. In der Regel stößt der Körper das Fremd-Transplantat nach kurzer Zeit ab, vernichtet es und kann dabei selbst zugrunde gehen.
Französische Chirurgen mußten das erfahren, als sie Weihnachten 1952 versuchten, dem 16jährigen Zimmermannslehrling Marius Renard, der mit nur einer Niere geboren war und sie beim Sturz von einem Gerüst zerquetschte, die Niere seiner Mutter einzupflanzen (SPIEGEL 4/1953). Wenige Wochen später starb Marius Renard an den Folgen der Abwehrreaktion seines Körpers gegen das fremde Organ. Nur bei erbgleichen Menschen, bei eineiigen Zwillingen, treten die gefürchteten Unverträglichkeitsreaktionen nicht auf.
Da indes die Brüder John und Andrew Riteris nicht eineiige, sondern zweieiige Zwillinge sind, hätten es die Mediziner des Peter-Bent-Brigham -Hospitals nach den gültigen Standard-Prozeduren nicht wagen dürfen, eine Niere von Bruder zu Bruder zu verpflanzen. Indes: Die Ärzte vollzogen die regelwidrige Operation, weil sie einem Irrtum erlegen waren.
Seit 1954 operieren die Mediziner in Boston unheilbare Nierenkranke, die zugleich eineiige Zwillinge und mithin »praktisch Menschen in doppelter Ausfertigung sind« (Chefchirurg Dr. Murray). Das Ärzte-Team der Klinik hat sich auf diese Operationstechnik spezialisiert, seit vor sechs Jahren der 24jährige Richard Herrick eingeliefert wurde.
Er litt, infolge einer unheilbaren Nierenkrankheit, an schwerer Harnvergiftung. Da sein (eineiiger) Zwillingsbruder Ronald bereit war, eine seiner gesunden Nieren für den nach damaligen klinischen Maßstäben zum Tode verurteilten Bruder zu opfern, entschlossen
sich die Ärzte zur Organverpflanzung. Das Wagnis glückte.
Der Fall Richard Herrick gilt seitdem als erste gelungene Organtransplantation in der Geschichte der Medizin. Bis zum Jahre 1958 operierten die Mediziner in Boston mit Erfolg weitere elf eineiige Zwillingspaare.
Kurz vor der Jahreswende wurde das zwölfte Paar zur Operation eingewiesen: John und Andrew Riteris, Söhne eines aus Lettland stammenden Ingenieurs. Während der deutschen Besetzung Lettlands war John Riteris als 7jähriger an einer Nierenentzündung erkrankt. Die Krankheit wurde wegen der Kriegswirren und des Ärztemangels nie richtig ausgeheilt.
Mit 19 Jahren mußte John den Dienst bei der amerikanischen Armee, den er ein halbes Jahr zuvor angetreten hatte, wieder quittieren, weil er unter hohem Blutdruck litt, einer Begleiterscheinung der Nierenkrankheit. Er studierte an der New Yorker Universität, doch kurZ vor seinem
Abschlußexamen
mußte er sich krank melden. Die Krankheit war in ihr letztes und schwerstes Stadium getreten: Beide Nieren versagten.
Nach der Aufnahme in das Peter-Bent -Brigham-Hospital schienen sich zunächst keine Komplikationen einzustellen. Die Ärzte entnahmen jedem der Brüder vom Unterarm ein Stück Haut und überpflanzten das Gewebe auf die Wunde des anderen Zwillings, um vorbeugend zu testen, wie der Organismus auf überpflanztes Gewebe reagiert. Bei eineiigen Zwillingen heilen die Hautstückchen stets ohne Schwierigkeiten ein.
Als der Chef-Pathologe des Bostoner Krankenhauses einige- Tage nach der Hautverpflanzung die Arme der beiden Patienten untersuchte, stellte er einen bestürzenden Sachverhalt fest: Das etwa markstückgroße Hauttransplantat auf Andrews Arm wurde abgestoßen - ein Beweis, daß es sich bei den Brüdern Riteris um zweieiige Zwillinge handelte. Da schon diese verhältnismäßig simple Hautverpflanzung mißlungen war, schien es aussichtslos, daß ein so kompliziertes Organ wie eine Niere einwachsen würde.
Dr. Murray gestand später auf einem wissenschaftlichen Kongreß, daß er die Einweisung der Gebrüder Riteris abgelehnt hätte, wenn bereits vorher bekannt gewesen wäre, daß sie keine eineiigen Zwillinge seien. Nachdem die Brüder sich aber schon in Boston auf die Operation vorbereitet hatten, beharrte der gesunde Andrew darauf, daß die Verpflanzung vorgenommen werde.
Eine Nachricht aus Europa erleichterte den Bostoner Ärzten die Entscheidung. Die Weltpresse berichtete in jenen Wochen ausführlich über den Fall der sechs jugoslawischen Atomtechniker, die am Reaktor von Vintscha bei Belgrad einer tödlichen Strahlendosis ausgesetzt gewesen waren (SPIEGEL 13/1959). Im Pariser Curie-Institut wurde den Verunglückten das Knochenmark freiwilliger Spender eingespritzt. Was niemand erwartete, geschah: Der Körper nahm das fremde Ersatz-Knochenmark auf.
Da der Körper unter normalen Umständen fremdes Knochenmark wie jedes andere Transplantat wieder abstößt, gab es nur eine logische Erklärung für die sonst unerklärliche Errettung der Jugoslawen: Die Bestrahlung, der die Atomtechmker ausgesetzt waren, hatte offensichtlich ihre Abwehrkräfte so geschwächt, daß der Körper das überpflanzte Knochenmark ohne die fatale Abwehrreaktion aufnahm. Tierversuche bestätigten die Vermutung.
Unter dem Eindruck der Kunde aus Paris entschlossen sich die Bostoner Ärzte zu dem Wagnis, John Riteris eine Niere seines Bruders einzupflanzen. Freilich: Vorher sollten die Abwehrkräfte seines Körpers durch Röntgenstrahlung geschwächt werden. John Riteris wurde zweimal kurz hintereinander mit jeweils 250 Röntgen-Einheiten bestrahlt (300 Einheiten können bereits tödlich wirken).
Am 24. Januar führten die Ärzte des Bostoner Hospitals die Operation aus. In zwei nebeneinander gelegenen Operationssälen wurden die Zwillinge John
und Andrew gleichzeitig narkotisiert. Ein Team unter Leitung von Dr. Hartwell Harrison legte bei Andrew die linke Niere frei. Im Nachbarraum öffnete der Chefchirurg bei dem kranken John die rechte Seite des Unterbauchs oberhalb der Blase, denn die fremde Niere wird nach dem von Dr. Murray praktizierten Verfahren nicht an den natürlichen Platz im Körper, sondern in ein neues Bett im Unterbauch gelegt.
Diese Position hat sich als zweckmäßig erwiesen, weil die Ärzte an dieser Stelle besonders guten Zugang zu den großen Blutgefäßen haben und weil die Entfernung von der eingepflanzten Niere zur Blase kürzer ist. Dr. Murray transplantiert jeweils die linke Niere des gesunden Zwillings, weil sie längere Blutgefäßstiele hat; er setzt sie, mit der Rückseite nach vorn, im rechten Unterbauch unmittelbar hinter der Bauchdecke ein.
Mittags gegen 12.30 Uhr, fünfeinhalb Stunden nach Beginn der Operation, war die Verpflanzung beendet. Es gab keine technische Panne. John Riteris fühlte sich schon am Abend wieder wohl. Am nächsten Tag stellte sich, heraus, daß die verpflanzte Niere zuverlässig arbeitete.
Wenige Tage später setzte die erwartete Abwehrreaktion ein, eine gefährliche Infektion mit hohem Fieber, doch den Internisten des Krankenhauses gelang es, die Temperatur zu senken.
Tatsächlich fühlte sich John zehn Tage nach der ersten Operation schon wieder so wohl, daß die Ärzte die zweite Operation ansetzen konnten. Während dieser zehn Tage hatte John mit drei Nieren gelebt, mit seinen beiden eigenen (kranken) und der gesunden Niere seines Bruders.
In der zweiten Operation würden nun die beiden kranken Nieren entfernt; das überpflanzte Organ übernahm von da an allein die Reinigung des Blutes. Zwei Wochen nach Ostern, am 11. April, konnte John aus der Klinik entlassen werden. Sein Bruder Andrew, von der Operation längst genesen, holte ihn ab ...
Acht Monate nach der Operation gab es erneut Komplikationen. Es schien, als wollte der Organismus die fremde Niere wieder abstoßen. Doch die Ärzte vermochten auch diese Reaktion einzudämmen. Seitdem hat es keine weiteren Zwischenfälle mehr gegeben. Ex-Patient John Riteris lebt beschwerdefrei mit der Niere seines Bruders.
Die Erfahrungen im Fall Riteris bewogen den französischen Urologen Professor Rene Kuess, zu Beginn dieses Jahres einem Patienten namens Coquerel die Niere einer Schwester des Kranken zu überpflanzen. Dr. Kuess kopierte sorgsam die Bostoner Operationsmethode: Auch er schwächte vor der Operation mit einer hohen Röntgendosis die Abwehrkräfte seines Patienten, um die lebensgefährliche Unverträglichkeitsreaktion zu mildern.
Im April dieses Jahres konnte Coquerei aus dem Pariser Foch-Krankenhaus entlassen werden. Die Ärzte betrachten es als sehr wahrscheinlich, daß er die Operation um viele Jahre überleben wird.
Die Bostoner Mediziner hoffen, künftig auch Nierenkranke operieren zu können, die keine Zwillingsschwestern oder -brüder haben. »Unser endgültiges Ziel ist es«, erläuterte der Bostoner Chefchirurg Dr. Murray, »eine Nierenbank einzurichten, eine Kühltruhe, in der wir die Nieren von Gestorbenen auf Eis legen können, um sie bei Bedarf fremden Menschen einzupflanzen, die sie brauchen.« Zwillinge Riteris*: Des Bruders Niere überpflanzt. *Links: Andrew, rechts: John.