PHILOSOPHIE/ ZEITKRITIK Wahrheit für Wenige
In den Ideologenstreit an deutschen Universitäten, den Konservative im Gefolge Heideggers und Revolutionäre im Gefolge Adornos und Herbert Marcuses mit dogmatischen Parolen gegeneinander führen, greift mehr und mehr eine dritte Kraft ein, die wahre Vernunft allein für sich reklamiert: der sich selbst als liberal verstehende und sich am Denkmodell der Naturwissenschaften orientierende »kritische Rationalismus«.
Dieser Rationalismus, der nicht nur Wissenschaft, sondern auch Politik dem Urteil der Logik unterwerfen will, wird in der Bundesrepublik vor allem vom Mannheimer Soziologie-Ordinarius Hans Albert repräsentiert. Er wähnt die totalen Weltdeutungen deutscher Sozialphilosophie und Geisteswissenschaft auf dem Rückzug vor dem naturwissenschaftlichen Denken. Sie blieben, so Albert in einem soeben erschienenen Buch, jeder Kritik unzugänglich, lehnten Neuerungen ab und wollten Leitgedanken akzeptierter Vorgänger autoritätsgläubig konservieren -- seien es nun Hegel oder Marx auf der einen, Heidegger auf der anderen Seite*.
Albert meint daher bei Reaktionären wie Revolutionären eine gemeinsame neue »deutsche Ideologie« entdecken zu können: Gemeinsam hätten sie -- wie immer auch die inhaltlichen Differenzen beschaffen sein mögen -- das »Erbe der Theologie« angetreten.
Theologisches Erbe sind laut Albert der »revolutionäre Messianismus« der von Marcuse inspirierten Neuen Linken und dessen Forderung nach radikaler Demokratie. Theologisches Erbe sei aber auch der Versuch der Heidegger-Schule, eine »Totaldeutung« der Welt aus deren endgültigem »Verstehen« heraus zu geben.
Wie ihr reaktionäres Gegenstück sei auch die Ideologie der Revolution konservativ, weil sie die »Idee eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit« eines nur für Eingeweihte erkennbaren Sinnes der Geschichte vertrete. Aus ihm leitet sie Anweisungen zum Handeln ab und vermittelt damit autori-
* Hans Albert: »Plädoyer für kritischen Rationalismus«. Piper Verlag. München; 152 Seiten; 8 Mark.
tativ ein neues »Heils- und Erlösungswissen": Einer auf egalitäre Massendemokratie gerichteten Praxis entspricht also laut Albert paradox eine »elitäre Erkenntnistheorie«, die, vor allem bei Marcuse und seinen Anhängern, Intoleranz und Parteilichkeit als Tugenden betrachte.
Marcuse habe Wissenschaft in das religiös-apokalyptische Katastrophendenken einer »Hoffnung auf die große Wende« verwandelt. Für ihn werde Wissenschaft Mittel zum Zweck, nämlich Instrument von »Anklage, Appell, Denunziation«, Waffe totaler Kritik und eines religiös-politischen Glaubenskampfes.
Damit aber verfällt Wissenschaft in den ideologischen »Alternativ-Radikalismus«, der nur mehr totales Heil oder Unheil vor Augen hat und mit den Schlagworten von »wahrem« oder »falschem« Bewußtsein das theologische Schema, es gebe kein Heil außerhalb der wahren Lehre, und die Verketzerung der Andersdenkenden erneuert.
Wie der konservative Flügel der neuen deutschen Ideologie durch seine Fortschrittsfeindlichkeit politisch stagniert, so bleibt der sozialrevolutionäre Flügel politisch unfruchtbar: Denn gerade Marcuse und dessen Anhänger unter den jungen Linken bekümmerten sich kaum um Realisierungsprobleme« sie seien, meint Albert, nicht daran interessiert, das vorhandene empirische Wissen für »Situationsanalyse und die Entwicklung von Programmen« zu nutzen.
Wer aber Realisierbarkeit außer acht lasse, so Albert, habe zwar »mehr Möglichkeiten, die Wunschphantasien seiner Anhänger fiktiv zu befriedigen«, doch verzichte er auch auf »praktikable, aber unattraktive Alternativen«, weil sie »Ideologisch anstößige Kompromisse« enthielten.
So verwandeln sich die angeblich moralisch überlegenen Gegner aller Gewaltanwendung laut Albert in »chiliastische Propheten«, die zur »letzten Gewalt« aufrufen, um Gewaltsamkeit für immer abzuschaffen.
Der theoretische Alternativ-Radikalismus erlaube fast nur noch die Wahl zwischen »Revolution und Resignation«. Wer aber an Revolution verzweifle und zur Resignation nicht bereit sei, gehe zu einer »Praxis des politischen Expressionismus mit punktueller Gewaltanwendung« über, die an »Kurzschlüssigkeit nichts zu wünschen übrig läßt«.
Der neuen deutschen Ideologie und ihren rechten wie linken Repräsentanten setzt Wissenschaftstheoretiker Albert die Herrschaft der Ratio entgegen. Als Schüler des einflußreichen, geadelten Philosophen Sir Karl Popper -- 1937 war er aus Österreich emigriert und seit 1949 Professor in London -- plädiert Albert für eine »kritische Prüfung« aller Theorien: Jede muß »falsifizierbar« sein, sie muß sich in der Erfahrung bewähren, ständig korrigiert oder sogar widerlegt werden können.
Politisch bekennt sich Albert wie sein Lehrer Popper zur liberalen Konzeption der »offenen Gesellschaft«, zum Gedanken der sozialen »Stückwerk-Technologie« (Popper), die eine Politik schrittweiser Reformen und ständiger Revision der Institutionen befürwortet. Gesellschaftspolitische Konzepte müssen sich nach dem Vorbild der Wissenschaft In freier kritischer Konkurrenz durchsetzen.
Freilich hört der politische Pluralismus freier Konkurrenz beim Liberalen Albert gerade dort auf, wo die Wissenschaftstheorie beginnt: Sein kritischer Rationalismus, der behauptet, von der »Fehlbarkeit menschlicher Vernunft« zu handeln, beansprucht zugleich absolute Wahrheit für die eigene Methodik, die allgemeingültigen Charakter haben soll. Adorno wandte gegen Popper und Albert ein: »Logik, verabsolutiert, ist Ideologie.«