RECHTSCHREIBUNG Warten auf Wien
Am 10. oktober vergangenen jahres fand in Wien eine deutsch-deutsche premiere besonderer art statt. Erstmals erschienen DDR-wissenschaftler zu einer konferenz über rechtschreibfragen. Sie kamen nicht -- wie in den fünfziger jahren der leipziger germanist Theodor Frings -- als privatpersonen, sondern in offiziöser, wenn nicht gar offizieller mission. Denn seit vier jahren wird in der DDR an der orthographiereform mit viel erfolg gearbeitet.
Von der »gemäßigten kleinschreibung«, die wenigstens satzanfänge, eigennamen und die namen Gottes groß schreiben will, bis hin zur »radikalen kleinschreibung«, die nur noch kleine buchstaben gelten läßt, reichen die vier reformvarianten der ost-berliner sprachwissenschaftler.
Inzwischen laufen zu den einzelproblemen der neuregelung zahlreiche untersuchungen, die bis ende 1979 abgeschlossen sein sollen. Dann will die DDR mit einem eigenen konzept aufwarten.
Eines ist jetzt schon sicher: Über die einführung der »gemäßigten kleinschreibung« wird die DDR nicht mehr mit sich handeln lassen. Sie ist für Ost-Berlin bereits beschlossene sache.
So konnten professor dr. Dieter Nerius von der universität Rostock, leiter der forschungsgruppe orthographie der DDR, und professor dr. Günter Feudel, langjähriger chef des zentralinstituts für deutsche sprache und jetzt an der akademie der wissenschaften der DDR, ihren nach Wien geeilten kollegen aus der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich nur die absicht ihrer regierung übermitteln, die rechtschreibung nicht allein zu reformieren.
Auch in Österreich, wo sich anfang der sechziger jahre die 1960 vom unterrichtsminister berufene »Österreichische kommission für die orthographiereform« weder für noch gegen die »Wiesbadener empfehlungen« und die »gemäßigte kleinschreibung« aussprach, sondern sich bei der entscheidenden abstimmung mit zehn zu zehn stimmen bei zwei enthaltungen selber austrickste, neigt man inzwischen der »vereinfachten kleinschreibung« zu. Allerdings agieren hier auch die apostel einer »vermehrten großschreibung« besonders lautstark.
Auch die Schweiz, wo die schreibregeln in die zuständigkeit der kantone und gemeinden fallen, steht bei der reformdiskussion nicht mehr abseits. Hatten noch im august 1963 die kantonalen erziehungsdirektoren fast einhellig gegen eine »gemäßigte kleinschreibung« gestimmt, so propagiert neuerdings der »bund für vereinfachte rechtschreibung« die kleinschreibung.
Klein oder groß, das ist die frage, auf die sich inzwischen die diskussion um die rechtschreibreform zentriert hat. Und während in der DDR, in Österreich und der Schweiz schon weitgehend abgeschlossene reformkonzepte vorliegen, hat Bonn seine 1958 von dem »arbeitskreis für rechtschreibregelung« erarbeiteten »Wiesbadener empfehlungen« sang- und klanglos zu den akten gelegt, obgleich noch im mai 1973 die bundesdeutschen kultusminister einstimmig eine kleinschreibreform gefordert hatten -- wie schon vor rund 70 jahren orthographie-papst Konrad Duden.
Den meinungsumschwung der bundesregierung motivieren weniger sachliche als politische gesichtspunkte. Denn auch die neuordnung der rechtschreibregeln sollte zu jenen sozialen reformen gehören, über die anfang der siebziger jahre so leidenschaftlich gestritten wurde.
Mit dem ende der ära Brandt-Scheel kam auch zuerst das schweigen über die orthographie-reform -- und dann die kehrtwende. Zu den befürwortern der »gemäßigten kleinschreibung« gesellen sich nunmehr die advokaten der »vermehrten großschreibung«, die bei zweifelsfällen mehr große buchstaben zulassen wollen.
Stärkste bastion der großschreiber wurde die in Wiesbaden ansässige »gesellschaft für deutsche sprache«. Ihr präsident ist, wohl nicht zufällig, staatssekretär dr. Siegfried Fröhlich, der im bonner innenministerium für rechtschreibfragen als federführer amtiert.
Während die sprachpfleger noch im mai 1973 für die kleinschreibung stimmten und ihr geschäftsführer Otto Nüssler voraussagte, daß sich diesem trend auf die dauer niemand entziehen könne, hoben sie im mai 1976 die »vermehrte großschreibung« auf den schild.
Für den 2. oktober dieses jahres hat die gesellschaft, die sich durch presseinformationen ("Kevin Keegan als vorbild") immer wieder ins gerede bringt und -- wie aus dem letzten geschäftsbericht hervorgeht -- durch natürlichen abgang vom aussterben bedroht ist, die großschreiber zur heerschau nach Wien aufgeboten.
Zuvor allerdings wollten sich die befürworter der klein- wie der großschreibung in Mannheim treffen. Für den 25. und 26. mai hatte das institut für deutsche sprache zu einer bestandsaufnahme geladen. Danach wolle man, so der rechtschreibspezialist des instituts, dr. Wolfgang Mentrup, an eine »konkretisierung« gehen, also aus den vorschlägen zur klein- und großschreibung regeln entwerfen.
Das führte zu einem überraschenden erfolg: Beide seiten verständigten sich über ein programm -- und vor allem darauf, daß die reform unverzüglich weiter vorangetrieben werden solle.
Auch der arbeitskreis rechtschreibregelung, seit mitte der siebziger jahre sanft entschlafen, soll auf wunsch der mannheimer tagung von kultusministern und bundesinnenminister neu belebt werden.
Damit sind keineswegs alle schwierigkeiten ausgeräumt. Während der vorsitzende eines neugegründeten »deutschen elternvereins« in einem »Welt«-interview vom 29. mai erklärte, vielen eltern fehle »die zivilcourage«, vernebelte ein kultusbürokrat in Mannheim die landschaft mit dem frommen spruch, nicht die kultusministerien stünden der reform im wege, sondern die »selbstbewußten eltern«.
Wer glaubt, daß eltern wünschten, ihre kinder sollten auch in zukunft die 40 rechtschreibregeln der tradition statt der vier für die gemäßigte kleinschreibung lernen -- der ist wahrhaft selig zu nennen.
Noch zeigte das bonner innenministerium kein reform-interesse. Die kultusminister wiederum verwiesen lediglich auf ihren beschluß von 1973 über die »gemäßigte kleinschreibung«. Beide seiten, so staatssekretär Fröhlich am 17. november 1978, wollten erst einmal eine bestandsaufnahme abwarten, die Österreichs regierung übernommen hat.
In Wien freilich beklagt man sich über Bonns mangelnde kooperationsbeeitschaft. Auf eine anfrage, wie denn nun mit der rechtschreibreform zu verfahren sei, blieben die bundesdeutschen, so ministerialrat Sachers vom Österreichischen unterrichtsministerium, bislang die antwort schuldig.
Allerdings wird derzeit nicht nur bei den bonner sozialliberalen die längst fällige rechtschreibreform vernachlässigt.
Dem baden-württembergischen CDU-kultusminister professor dr. Roman Herzog war sein grauen vor der kleinschreibung gar eine staatsaktion wert. Auf dem wiener westbahnhof zwang er als höchster dienstvorgesetzter den lehrer Werner Hiestand aus Tuttlingen, vorsitzender der »aktion kleinschreibung«, brüsk zur heimreise. Trotz dienstreisegenehmigung konnte also lehrer Hiestand an der wiener rechtschreibkonferenz im letzten oktober nicht teilnehmen.
Doch während Bonn auf Wien und Wien auf Bonn wartet, läßt Ost-Berlin bei der reform nicht locker. Sprachwissenschaftler Nerius und sein kollege Feudel kündigten an, auch in zukunft werde die DDR in sachen rechtschreibreform politisch aktiv bleiben.