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WAS ANKOMMT, WIRD VERURTEILT

Als Ergebnis einer »monströsen Fehlinterpretation Brechts« bezeichnet »The Times Literary Supplement« in einer der letzten Ausgaben die Urteilskategorien der vorherrschenden deutschen Theaterkritik. In der überlangen 1000-Zeilen-Rezension einer Dramen-Auswahl** polemisiert das angesehene Londoner Literatur-Blatt überdies gegen dos Subventions- und Abonnenten-System am deutschen Theater, das der englische Kritiker-Star Kenneth Tynan vor einigen Jahren als »das beste der Welt« gelobt hatte (SPIEGEL 45/1964). Der ungewöhnlichen Argumentation des Leitartikels -- Verfasser des anonymen Artikels: Ernest Borneman -- sind folgende Auszüge entnommen:
aus DER SPIEGEL 18/1969

Kenneth Tynan hat geschrieben, die Deutschen in Ost und West betrachteten ihr Theater als eine Mischung aus öffentlicher Bücherei und Museum. Für den Fall, daß jemand diese Äußerung mißverstehen oder als Beleidigung auffassen sollte, fügte er hinzu, einem deutschen Theaterabonnenten würde der wahnwitzige Kampf um Karten für eine West-End-- oder Broadway-Aufführung einfach grotesk erscheinen .

Leider ist das Resultat (des deutschen Subventionstheater-Systems) nicht eine Vorherrschaft schöpferischer Theaterleute, sondern ein Regime der Bürokratie.

Niemand, der einmal an einer westdeutschen Bühne gearbeitet hat, nachdem er in London, New York oder Paris als Autor, Regisseur, Schauspieler oder Bühnenbildner tätig war, wird jemals den dichten grauen Nebel der Spießigkeit, die Beamtenmentalität und den Provinzialismus vergessen, die ihn dort bei seinem täglichen Kampf, überhaupt etwas zustande zu bringen, zu ersticken drohten.

Die Unterhaltung in der Kantine dreht sich nicht um Aufführungsfragen, sondern um Besoldungseinstufungen, Pensionen, Arbeitsstunden, Überstunden-Bezahlung und Versicherungsprämien. Ob der Chefdramaturg nach A 14 eingestuft wird oder nur nach A 13, beherrscht sein Denken mehr als die Frage, ob als nächstes ein Stück von Frisch oder von Dürrenmatt aufgeführt werden soll.

Was Ken Tynan am deutschen Theatersystem für beneidenswert hält -- langfristige Verträge (viele gewährleisten eine Beschäftigung auf Lebenszeit) für Musiker, Tänzer und Bühnentechniker -, mag dem Establishment Sicherheit bieten, kann aber ebenso zu Langeweile, Gleichgültigkeit und Lethargie führen. Die bloße Tatsache, daß alle wichtigen deutschen Bühnen subventioniert werden, beraubt sie der Initiative ...

Tynan preist Brechts Konzept einer nichtkulinarischen Bühne, die im Vergleich mit dem amerikanischen Theater, das sich als Verkaufsstätte für Konsumgüter versteht, sehr gut abschneidet. Hätte aber Brecht jemals den Begriff eines nichtkulinarischen Theaters entwickelt, wenn er nicht in einem Lande aufgewachsen wäre, wo die Prinzipien der Theatersubvention und des Abonnements als gegeben angesehen werden? Würde die Idee eines Anti-Unterhaltungstheaters nicht völlig abwegig anmuten, wenn man daran gewöhnt wäre, daß Stücke abgesetzt werden, falls sie nicht unterhalten?

In keinem der zahlreichen Bücher über Brecht ist jemals darauf hingewiesen worden, daß das Brecht-Theater notwendigerweise ein subventioniertes Theater sein muß. Wenn man die ost- und westdeutschen Bühnenautoren der Ära nach Brecht beurteilt, ohne daran zu denken, daß ihre Werke für ein Theater geschrieben werden, das seine Kosten nicht allein zu tragen braucht, so zeugt das nicht nur von mangelndem Verständnis für die wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch von mangelnder Kenntnis der Theatergeschichte ...

In Westdeutschland wird jede verkaufte Theaterkarte mit mindestens 15 Mark subventioniert. Erst wenn einem das bekannt ist -- daß sich niemand sehr darum zu kümmern braucht, ob dem Zuschauer die Vorstellung gefällt oder nicht -, kann man die ständige Nörgelei der westdeutschen Theaterkritiker verstehen, diese oder jene Vorstellung sei zu »primitiv realistisch«, zu »gefällig« oder zu »kulinarisch«

Als die wohl deprimierendste Erscheinung im westdeutschen Theaterleben von heute ist die Tatsache zu bezeichnen, daß die Avantgarde, in ihrem Bestreben, sich vom Dogma zu befreien, zu einer der dogmatischsten Pressure-groups Westdeutschlands geworden ist. Die Klarheit, für die sich Brecht einsetzte, wurde im Namen der »Verfremdung« durch so viel Obskurantismus ersetzt, daß man es gesehen haben muß, um es zu glauben.

Nur Stücke mit einem hohen Grad an Verfremdung haben Aussicht auf Anerkennung, aber diesen Stücken kann ein Laienpublikum nicht ohne weiteres folgen. Das Ergebnis ist eine ständig größer werdende Kluft zwischen den Stücken, die von den Kritikern gelobt werden, und denjenigen, die dem Publikum gefallen.

Die Kritiker loben Hans Günter Michelsen, Peter Handke, Paul Pörtner, Otto F. Walter und ähnliche Autoren, deren Werke von nichtsubventionierten Bühnen innerhalb oder außerhalb Deutschlands wahrscheinlich nicht aufgeführt werden könnten, während Autoren wie Rolf Hochhuth, Karl Wittlinger und Leopold Ahlsen, die beim deutschen Publikum Erfolg hatten, von der Kritik nicht nur als schlechte Schriftsteller abqualifiziert, sondern auch moralisch exekutiert werden -- als Sünder wider den Kodex der Verfremdung. Frisch, Dürrenmatt und Fritz Hochwälder, die anderen drei deutschsprachigen Bühnenautoren, die beim Publikum Erfolg hatten, blieben weitgehend von der Kritik verschont, aber nur weil sie nicht als Deutsche zählen; Frisch und Dürrenmatt sind Schweizer, Hochwälder ist Österreicher.

Drei weitere erfolgreiche Bühnenautoren -- Peter Weiss, Martin Walser und Heinar Kipphardt -- sind dem Gemetzel ebenfalls entgangen, doch aus anderen Gründen: Sie waren wegen ihrer politischen Überzeugung schwer anzugreifen. Sosehr die Kritiker auch mit Walsers zusammengewürfelten Theatertechniken unzufrie-

* Oben: »Kaspar« im »Frankfurter Theater am Turm; unten: Peter Lühr und O. E. Hasse in »Soldaten« (Freie Volksbühne Berlin).

** Karlheinz Braun (Herausgeber): »Deutsches Theater der Gegenwart«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; zwei Bände; 1240 Seiten; 25 Mark.

den waren, sosehr sie auch den naiven Agitprop-Stil in den Stücken von Weiss und Kipphardt beklagten -- sie schlugen doch nicht mit voller Kraft zu, weil die Kräfte der Reaktion in Deutschland noch so stark sind, daß linke Schriftsteller und Kritiker ein gewisses Maß an Solidarität wahren müssen, um überhaupt zu überleben. Dennoch läßt sich schwerlich der Verdacht von der Hand weisen, Weiss und Kipphardt hätten ihre Stücke absichtlich mit einer gewissen Menge formalistischen Beiwerks ausgestattet, um so dem Vorwurf zu entgehen, sie machten altmodisches Theater ...

Diese verkehrte Welt, in der Stücke angegriffen werden, wenn sie heim Publikum ankommen, und gelobt werden, wenn das nicht der Fall ist, wo Stücke von Bedeutung verurteilt werden, weil sie zu unterhaltsam sind, während Werke ohne jegliche soziale Substanz von Kritikern gepriesen werden, die sich selbst für Sozialisten halten, ist außerhalb Westdeutschlands nur schwer verständlich ... Der Bruch mit der Wahrscheinlichkeit, der Verständlichkeit, der Psychologie, der Kontinuität, der Spannung und Lösung, das heult mit der gesamten Grammatik des traditionellen Theaters, wird in Deutschland weit mehr betont als in London, New York oder Paris. Während bei uns Relikte aus dem neunzehnten Jahrhundert Seite an Seite mit Beckett, Ionesco, Pinter und Arden weiterleben, finden deutsche Kritiker unsere Toleranz gegenüber Bühnenautoren wie Osborne und Wesker einfach unverständlich.

Daß Wesker auf jeden Fall ein Mann ist, der die Gesellschaft ändern möchte, interessiert nicht einmal Sozialisten unter den jungen deutschen Theaterkritikern. Ihre Ansicht von der Revolution wird durch die Form bestimmt und nicht durch den Inhalt. Man mißtraut allem, was an formale Stabilität an Ordnung, strukturelle Ausgewogenheit und Tradition erinnert, als einem Symbol des Establishments -- wenn nicht des bürgerlichen, dann gewiß des kommunistischen.

Trotz offenkundig demokratischen Bemühungen -- Diskussionen zwischen Publikum und Theaterleuten. zwischen Regisseuren und Schauspielern, zwischen Intendanten und Kritikern -- herrscht Verachtung der Demokratie vor. Die Diskussionen sind so eng auf die immer gleichen wenigen Punkte begrenzt, daß schwer einzusehen ist, warum sie überhaupt stattfinden. Diejenigen, die anderer Ansicht sind, kommen ohnehin nicht zu Wort ... Findet doch einmal ein Dialog statt, so nur zwischen Konvertierten.

Die Schlüsselfrage, die man zumindest von der Linken erwarten dürfte -- wie machen wir uns der großen Masse unseres Publikums verständlich -, wird niemals gestellt. Bühnenschriftsteller, die sich bemühen, ein Massenpublikum zu erreichen, werden als minderwertige Autoren abgetan, ganz gleich, ob sie schreiben, um Geld zu verdienen oder um ihre Gesellschaft zu ändern.

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