ENZENSBERGERS OKTOBER-LEKTÜRE WAS BLEIBT
Was vom Wesen, von den Wegen und Werken des Deutschen bleibt, macht immerhin 776 Seiten aus. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß derselbe, um nur seine wichtigsten Bestandteile zu nennen, in den Groß-, den Gesamt-, den Volks-, den All- und den Volldeutschen zerfällt, vom Gesinnungsdeutschen einmal ganz abgesehen. Sie alle betreut das vorliegende Werk, vom Zürichsee bis an die Memel, von Graz bis Amsterdam, von Straßburg bis Trient, soweit eben, nach Ansicht der Verfasser, »der deutsche Siedlungsraum« reicht.
Da im Augenblick noch nicht ganz abzusehen ist, wer »der zur Zeit obdachlosen deutschen Seele wieder ein neues Haus bauen« wird, könnte es freilich dahin kommen, daß wir »das Bewußtsein des volklichen Wir-Ich« verlören. Das werden wir aber gleich haben. Dafür sorgt schon »der Weltbekannte, der die Welt kennt«, nämlich ein gewisser Karl Anton Prinz Rohan.
Was der Deutsche ist, und vor allem, was »die tiefsten-Schichten seines Wesens« sind, die »sozusagen als ewiges Deutschtum ... in Zukunft bestimmend bleiben werden«, das teilt er uns anhand eines »Tatsachenberichts aus jüngster Zeit« mit:
»Ein pensionierter Beamter, nach einem arbeits- und erfolgreichen Leben, erfüllt von Redlichkeit und Pflichttreue im Beruf ... gab am Sterbebett seinen Kindern als letzten Auftrag, seinen Tod alsobald, der Pensionsanstalt zu vermelden - 'denn ihr seid nicht berechtigt, die nächste Pensionszahlung anzunehmen, nachdem ich gestorben sein werde'. Dieser Sinn für Ordnung, diese Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit des 'unbekannten Soldaten' der Nation, diese schlichte Ehre ist es, die ... deutsches Wesen allen Völkern der Welt immer wieder verständlich machen wird.«
Aber damit nicht genug. Bei weitem nicht. Befeuert vom Siegeszug seiner Star-Autorin Gertrud von Hilgendorff, deren Hauptwerke »Manierlich
- Erfolgreich - Beliebt« sowie »Harmonisch - Weiblich - Begehrt« bahnbrechend gewirkt haben, hat der wagemutige Verlag aus dem Südosten des »deutschen Volksraums« keine Mühe gescheut, uns die »Hochziele« unserer »Bluts- und Schicksalsgemeinschaft« in ihrer ganzen Vielfalt vor Augen zu stellen.
Wie Schuppen fällt es einem da von den Augen: »Der deutsche Turm will eine Spitze haben.« - »Das Forstwesen ist in hervorragender Weise eine deutsche Angelegenheit.« - »Die ganze deutsche Kunst (ist) eine einzige Sonderleistung.« - »Kaum anderswo als inDeutschland sind so viele Stubenwände mit Gehörnen, Geweihen, Hauern, Vogelbälgen bedeckt.«
Ließen's die Beiträger des Werkes bei dergleichen Proben professoralen Schwachsinns, bei unfreiwilligen Bobby-Witzen bewenden, so hätten wir kaum Grund, uns mit ihnen zu beschäftigen. Ihr Eifer ließe allenfalls den zwar schmerzlichen, doch kaum überraschenden Schluß zu, daß das Grazer Geistesleben sanft vertrottelt ist. Aber das Ziel des Buches ist höher gesteckt, und es ist erreicht worden: »Was bleibt« ist die bislang umfassendste Bestandsaufnahme dessen, was vom Faschismus in unserm Land geblieben ist. Das macht es zu einem unentbehrlichen Handbuch und zu einem Ratgeber, der nie versagt.
Nehmen wir, beispielsweise, die Panne mit dem Zweiten Weltkrieg. Wer daran wohl schuld war? Das ist eine Kleinigkeit. Schuld war a) die Währungspolitik und b) die Welt. ("Hätte die Welt mit den Männern der deutschen Volkstumsbewegung die Revision - des Versailler Vertrags - durchgeführt, der Zweite Weltkrieg wäre vermieden worden.« Man »degradierte in den dreißiger Jahren die Währungen zur handelspolitischen Waffe. Letzten Endes war das Ergebnis ... Hitler und der Zweite Weltkrieg«.)
Überhaupt dieser Hitler! Immerhin, einiges weiß man in Graz zu seinen Gunsten anzuführen. Vor allen Dingen hat er Österreich »gekräftigt«, und zwar »durch die Verbindung mit dem deutschen Muttervolk«; auch war »die Bewegung von manchen echten Zukunftskräften getragen«, zumal »nirgends übersehen werden konnte, daß ausgesprochen religiöse Elemente an der Revolution(!) mitbeteiligt waren«. Bald war »das Gift des Klassenkampfes überwunden« und dem »östlichen Nihilismus« ein Schnippchen geschlagen, und die Russen konnten »die deutschen Befreier« begrüßen. Und was vielleicht noch mehr für Hitler spricht: »Niemals haben der Frack des Herrn und das große Abendkleid der Dame ... solche Wiedergeburt erlebt wie im Berlin von 1933.« »Hochgezüchtete Rasse« wurde »als Elite ... in das Volkhafte des Nordisch-Germanischen übertragen«, und ein »Antisemitismus, der geordnete Dissimilierung und Abwanderung der Juden anstrebte, weckte manche Sympathien«, nicht zuletzt bei zahlreichen Mitarbeitern an dem, »Was bleibt«.
Andrerseits natürlich ließ sich Hitler, dieser Tunichtgut, manche Geschmacklosigkeiten zuschulden kommen, von denen es abzurücken gilt. Er hat zum Beispiel das Berufsbeamtentum geschädigt, er hat sogar Südtirol verraten, ja er hat, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, »Die schweigsame Frau« von Richard Strauss »aus den Repertoiren verbannt«. Alles was recht ist: das, und Auschwitz, ging zu weit! Das waren »Übersteigerungen«, »Verkrampfungen«, »Übertreibungen«, das war »Überspannung«, »Versagen« und »Verranntheit«. Überflüssig zu sagen: davon haben wir nichts gewußt. Der Faschismus hat sich prinzipiell hinter dem Rücken der Faschisten abgespielt, die sich vor ihn gestellt haben. Siebzehn Jahre nach seiner Niederlage laden sie uns zur Tafel der abendländischen Kultura und setzen uns vor, was geblieben ist: Speisereste.
Spätestens hier sehe ich den großzügigen Leser abwinken, und ich höre ihn sagen: Gestrige Wirrköpfe! Harmlose Narren, von denen kein Hund mehr einen Knochen nähme! Ich aber zähle im Verzeichnis der Mitarbeiter dreizehn Professorentitel, vier Ehrendoktoren, einen Pour le Mérite, ein Großes Bundesverdienstkreuz, ein Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, ein Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes mit Stern, einen Goethe-Preis, einen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; ich erblicke unter den Beiträgern den Vorstandsvorsitzenden des Volkswagenwerks, den Präsidenten der Salzburger Festspiele, den Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Präsidenten der Deutschen Bundesbank; ich sehe den Faschismus in einer Gesellschaft, die hierzulande für die beste gilt; und ich bewundere den Instinkt aller Hunde, die von ihr, wie von dem, »Was bleibt«, keinen Knochen nehmen wollen.