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AUTOREN »Was das nun wieder soll?«

Benjamin von Stuckrad-Barre über den Sammler und Chronisten Walter Kempowski und dessen Tagebuch aus dem Wendejahr 1989
aus DER SPIEGEL 43/2001

Stuckrad-Barre, 26, lebt als Reporter und Schriftsteller in Berlin; zuletzt erschien von ihm der Band »Transkript«. -------------------------------------------------------------------

Die Bilder waren übermächtig, schweigen wäre die adäquateste Kommentarform gewesen, doch in Ausnahmesituationen misstrauen Fernsehjournalisten dem Vorteil ihres Mediums, hin und wieder ohne Worte auszukommen. Das Undenkbare ist eingetreten. Die Welt wird von nun an eine andere sein. Eine neue Zeitrechnung! Wieder mal.

Walter Kempowski lag auf seinem Bett, notierte, was er sah, und ärgerte sich über das Verhältnis von Information und Emotion in der Berichterstattung. Die dagegengesetzte detaillierte Beschreibung sowohl der Bilder als auch ihrer Aufbereitung macht »Alkor«, sein gerade erschienenes Tagebuch des Jahres 1989, zu einem der gehaltvollsten Geschichts- und Geschichtenbücher über dieses bewegte deutsche Jahr.

Für sein »Echolot« hat Kempowski, 72, Hunderte von Tagebüchern gelesen und ausgewertet (und tut es weiterhin), deshalb wohl gelingt es ihm in »Alkor« so mustergültig, eine Existenz zu skizzieren, an der entlang erzählt die Historie greifbar wird.

Jeder Tagebuchtag beginnt mit der unkommentierten Gegenüberstellung der Titelschlagzeilen von »Bild« und »Neues Deutschland«, und dann nimmt Kempowski irgendeinen Faden auf und beginnt zu erzählen, über das Landleben im niedersächsischen Nartum, seine Ehefrau, die Weltgeschichte und das Mittagessen. Da ihn das TV-Gelalle eines Politikers oder das Werk eines selbstherrlichen Kollegen in exakt demselben Maße erzürnt wie das Telefonklingeln während des Mittagsschlafs, da er also nicht in die Eitelkeitsfalle des Auswiegens und Nachsortierens tappt, bleibt der Leser 600 Seiten lang auf Seiten des Auskunftgebenden.

Durch die tägliche Schlagzeilen-Ouvertüre ist man schnell wieder in der Hysteriegrammatik jener Zeit, und anders als bei TV-Wiederholungen der »Tagesschau«, bei denen Frisur und Krawattenwahl des Moderators die Geschehnisse, auch wenn sie nur zehn Jahre zurückliegen, unbestimmt weit zurückdatieren, der Bezugsfaden gekappt wird, erreicht Kempowskis meisterliche Verzahnung von kollektiver und persönlicher Erinnerung beim Leser ein Gefühl der absoluten Unmittelbarkeit.

In der Erinnerung beschränkt man sich ja gern auf das vermeintlich Wesentliche, lässt dem Leben so nachträglich die Luft raus, und viele Tagebuchveröffentlichungen kranken an diesem parfümierenden Gestus: Schon damals war mir klar. Jaja. All die neuen Zeitrechnungen dauernd.

Kempowski mag es kleiner und findet tatsächlich alles überliefernswert: »2. Quartett von Mendelssohn. 'Dem Kronprinzen von Schweden gewidmet'. Möchte man gerne wissen: Warum?« Je banaler, für sich genommen, die zusammengetragenen Zeugenpartikel sind, desto besser. Auch dies eine aus der Arbeit am und der Wirkung vom »Echolot« gewonnene Erkenntnis.

Seine Auswahl unterschiedlichster Quellen und Schnipsel ist so persönlich, daher nachvollziehbar, durch ihre Breite aber wird es dann allgemein gültig. So gelingt es Kempowski, 1989 in ungeheurer Vielstimmigkeit erstehen zu lassen. Ihm selbst ist wahrscheinlich sogar das noch zu subjektiv, sein Gesamtwerk ist ja geprägt von dieser Sammelwut, dieser asymptotischen Annäherung an die vollständige Dokumentation - zum Beispiel, unter so viel anderem, überlegt er in »Alkor« Steffi Graf betreffend schelmisch: »Was die wohl für perverse Briefe kriegt. Ob sie die mal einer Forschungsstelle zur Verfügung stellt?«

Durch seine deskriptive, bewusst naiv fragende ("Was das nun wieder soll?") Schilderung der Ereignisse kommt Kempowskis Text tatsächlichem Erleben sehr nahe, er nennt die Bilder und Situationen, die sich einprägen, und nicht die, von denen man es gern hätte. In den Urteilsfindungen nähert er sich von ganz außen: Damit aufgehört, Tennis im Fernsehen zu verfolgen, hat Kempowski exakt an dem Tag, an dem ein deutscher Spieler zum ersten Mal eine Mütze verkehrt herum aufsetzte.

Das Getöse wird vereinfacht, Weltgeschichte entlärmt ("Hitler in einem weißen Jackett« oder auch »Honecker mit Strohhut"), denn Hildegard hat Husten, oder der Hühnerstall ist endlich fertig. Schilderungen und Erkenntnissen des Landlebens setzt Kempowski in »Alkor« den Begriff »Dorfroman« voran, offenbar der Arbeitstitel seines 1998 erschienenen Buchs »Heile Welt«, doch lässt sich die Tagebuch-Stoffsammlung auch anders lesen: das Bekenntnis zum Leben als Literatur. Alles ist, alle sind Literatur! Jeder schreibt seine Geschichte, indem er lebt. Jeden Tag.

Kempowski würde sich wohl nie eine Geschichte ausdenken. Er lebt den Dorfroman, stilisiert das ihm anhängige Image des reaktionären »Welt am Sonntag«-Lesers gründlich über die Klischeegrenze hinaus ("Was bleibt, sind die deutschen Militärmärsche"), bastelt sich eine Murmelbahn, ihm wachsen Haare aus den Ohren, er hört Brahms und findet allerlei zum Kotzen. Vollkommen sympathisch.

Er scheint in seiner (Selbst-)Beobachtung keinen Lebensbereich auszulassen, doch die sachliche, mildironische Diktion gibt dem Leser nie das Gefühl, an etwas Intimem teilzuhaben, alles scheint exemplarisch, selbst das »Leibschneiden«. Oft verniedlicht er, klingt beinahe, als rede er beruhigend auf ein schreiendes Baby ein, dabei formuliert er eine detaillierte Nationsanamnese.

Kopfschüttelnd verbringt Kempowski seine Tage, alles so erstaunlich, komisch, seltsam. Außerdem ist er pausenlos dezent beleidigt: vom Körper genervt, vom Kontostand gesorgt, vom Verlag vernachlässigt, von der Kritik ignoriert, von Lektüre, Fernsehen, Besuch oder Wetter in den Wahn getrieben. Aber immer auch spielerisch: Hoch amüsante Schimpfkanonaden münden dann in Gewaltphantasien. Diese dicke Frau im Süßwarengeschäft - »kleine Arschtritte, würde ich sagen (sechs Wochen lang). Und dann im Belgischen Kongo aussetzen«! Als Bewältigungsreflex erzeugen die Zumutungen oft knappe Brutalurteile: »Revue-Scheiße«, »Ski-Scheiße«, »Ladenschlussscheiße«, »Walzer-Scheiße«.

Kempowski ist meinungsfreudig, jedoch in seiner auch immer schon stilisierten Verbohrtheit von einer beispiellosen Offenheit nach allen Seiten, die wohl auch seine Alleinstellung im deutschen Literaturbetrieb erklärt. Preise, Frauen, Auflagen, Übersetzungen haben die anderen.

Dass man ihn, den ehemaligen Bautzen-Häftling, im Herbst 1989 nicht täglich in der »Tagesschau« interviewt, wundert ihn wie eigentlich alles, und doch kann er diese Verletzung erfrischend offensiv und lakonisch darlegen: »Ja, unsereiner steht hier jetzt ein bisschen blöd in der Gegend rum. - Hat da einer gerufen? Nein, es hat niemand gerufen. Lesung in Neu Wulmstorf.« Und in Berlin halten die anderen wichtige Reden oder signieren in Hamburg noch viel wichtigere Appelle.

Erhellend ist es, parallel zu »Alkor« in Peter Rühmkorfs 1995 erschienenem Tagebuch der Jahre 1989 bis 1991 ("Tabu I") zu lesen. Und was sich früher vergnüglich las, bleibt nun, im direkten Vergleich, bloß eitel nachpoliertes, als persönliche Onaniebestleistung bemerkenswertes Ich-Geschwalle, als Zeitdokument aber recht unerheblich.

Im November 1989 schreibt Kempowski über Tage nurmehr mit, protokolliert phasenweise stichwortartig, baut eine wunderbare Chronikcollage, während Rühmkorf zeitgleich alles sowieso schon durchschaut und es leider verpasst, kurz mal von sich abzusehen. Im Vergleich zu »Tabu« deutlich angenehmer ist »Alkor« auch dadurch, dass Kempowski auf jegliche Dirtyold-Man-Posen verzichtet.

Einmal bekommt er Besuch von Mädchen aus dem Dorf, die Briefmarken geschenkt haben wollen. »Ich fragte, ob sie schielen könnten. Sie konnten. Und wie! - Folglich bekamen sie Briefmarken.« Ein anderes Mal wünscht er sich ältere Schaffnerinnen, da die jungen solche »Schafsgesichter« hätten. Rühmkorf hingegen wäre, dem »Tabu«-Selbstentwurf nach, wahrscheinlich lieber mit der jungen Kontrolleurin Kiffen gegangen und dann mal sehen und so weiter, und bei der Briefmarkenmädchenepisode hätte er kaum auf die Einbringung des Wortes »lecken« verzichten mögen, dessen kann man gewiss sein.

Vor zwei Jahren, bei einem von Kempowski in seinem Haus ausgerichteten Tagebuchseminar, las Rühmkorf abends vor den anwesenden Ich-schreibe-Auchs (überwiegend regulationsdefekten älteren Damen mit Brillenbändern und Strickzeug).

Das Verhalten der beiden Schriftsteller unterschied sich an diesem Abend exakt so voneinander wie Ton und Absicht ihrer Tagebücher: Rühmkorf singsangte einige Gedichte und trank Wein dazu (Literatur!), streichelte dabei seinen mehrfarbigen Seidenschal. Kempowski schlich mit einer Fliegenklatsche durch den Raum und grinste. Mineralwasser. Nach der Lesung setzte sich Rühmkorf neben die jüngsten Damen im Raum, bis er sie müde geredet hatte, dann zur nächsten, es wurde später, die Jüngsten älter.

Die Sitzgruppen um Rühmkorf herum tönten weinselig, Kempowski gesellte sich derweil (immer freundlich, nie verbindlich) zu allein herumsitzenden Gesellschaftsversagern und ging sehr früh ins Bett. Am darauffolgenden Morgen, am späten Vormittag, hieß es, Rühmkorf habe nachts sein Auto in ein Feld gesetzt und im Übrigen seine Medikamente im Vorleseraum vergessen. Er liege noch danieder, und gut gehe es ihm nicht gerade. Für Kempowski war es da fast schon wieder Mittagsschlafenszeit.

Als am 11. September das World Trade Center brannte und schließlich in sich zusammenfiel und angesichts der irreal erscheinenden Bilder die einzig normale Reaktion entsetztes Schweigen gewesen wäre, die Fernsehjournalisten aber das Unerklärliche einzuordnen versuchten - da lag Walter Kempowski wieder auf seinem Bett und notierte, was er sah.

»Der Strom von Kitsch ekelt an«, benotete er die Berichterstattung. Irgendwann wird hoffentlich sein Tagebuch von 2001 veröffentlicht werden. Die Bilder wird man bis dahin nicht vergessen haben, das Drumherum größtenteils schon. Gut also, dass Kempowski mitschreibt: »Es werden Choräle angestimmt. Na.«

Benjamin voni Stuckrad-Barre

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