Filme der Woche So viele offene Wunden

Maria Schraders Film über die Weinstein-Enthüllungen läuft an. Netflix bietet im Kino »Weißes Rauschen« und im Stream »Pinocchio«, Mia Hansen-Løve übertrifft sich selbst – das sind die Filmstarts der Woche.
Szene aus »She Said« mit Zoe Kazan (1. von links) und Carey Mulligan (2. von links): So packend kann es sein, Menschen beim Reden zuzuhören

Szene aus »She Said« mit Zoe Kazan (1. von links) und Carey Mulligan (2. von links): So packend kann es sein, Menschen beim Reden zuzuhören

Foto: Universal Pictures

Ab 8. Dezember im Kino

»She Said«

Eigentlich wird in diesem Film fast nur geredet, mehr als zwei Stunden lang. Oft leise und langsam, meist über Dinge, die schon Jahre zurückliegen. Das könnte ziemlich zäh sein. Doch Maria Schrader  ist mit »She Said« gerade deshalb ein packender Journalistinnen-Thriller gelungen, weil sie auf die Kraft des gesprochenen Wortes vertraut. Ruhig, konzentriert und bewegend erzählt sie, wie die sexuellen Übergriffe des Produzenten Harvey Weinstein aufgedeckt wurden und welche Wunden sie bei den betroffenen Frauen hinterlassen haben.

Carey Mulligan und Zoe Kazan spielen Megan Twohey und Jodi Kantor, zwei Reporterinnen der »New York Times«, die 2017 den Weinstein-Skandal aufdeckten. Man sieht sie Telefonate führen, die sie oft kaum weiterbringen, und wenn doch, da nur millimeterweise. Türen werden ihnen vor der Nase zugeschlagen. Immer wieder stoßen die beiden auf Barrieren aus Angst und Scham. Wie sie diese überwinden und immer mehr Betroffene dazu bringen, ihnen zu vertrauen, gibt dem Film eine ganz eigene Dramatik.

In einer Sequenz gleitet die Kamera über einen Hotelflur. Dazu hört man die Originalstimme von Weinstein, wie er auf das Model Ambra Battilana Gutierrez einredet, die ein Gespräch mit ihm mit Unterstützung der Polizei heimlich aufzeichnete. Sein perfider Modus operandi wird erkennbar, seine bedrohliche Penetranz spürbar. Dann erkundet die Kamera die Suite eines Luxushotels. Sie ist nur einer von vielen Tatorten. Lars-Olav Beier

»She Said«. USA 2022. Regie: Maria Schrader. Buch: Rebecca Lenkiewicz. Mit Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson. 129 Minuten

»Weißes Rauschen«

Der Film von Noah Baumbach spielt in einer nur scheinbar Jahrzehnte entfernten Vergangenheit und handelt von einer US-amerikanischen Lehrerin (Greta Gerwig mit absurder Dauerwellenfrisur) und einem Uniprofessor (Adam Driver mit gemütlicher Plauze), deren Patchworkfamilie durchgeschüttelt wird. Erstens durch einen Chemieunfall in der Nähe ihres Wohnorts und zweitens durch den Auftritt eines kuriosen Nebenbuhlers, den Lars Eidinger spielt.

Szene aus »Weißes Rauschen«: Erstaunlich viel Spaß inmitten des Grauens

Szene aus »Weißes Rauschen«: Erstaunlich viel Spaß inmitten des Grauens

Foto: Wilson Webb/Netflix / Wilson Webb / Netflix

Als Vorlage dient ein Roman von Don DeLillo, der 1985 erschienen ist. Der Film ist kreischend bunt, intelligent, komisch – und schwer überdreht. Zu Beginn etwa erklärt Don Cheadle in der Rolle eines durchgeknallten Filmprofessors das Vergnügen von Zuschauerinnen und Zuschauern am blutigen Schrecken. Er zeigt seinen Studenten spektakuläre, auch tödliche Autounfälle; und genau so einen, besonders bizarren und besonders schrecklichen Autounfall gibt es auch später im Film zu sehen. Baumbach erzählt vom Mut zum Witz als Überlebensstrategie. Die Kinder halten wunderbar altkluge Reden, als es zur Massenflucht kommt, weil ein Tanklaster und ein Güterzug mit Chemikalien ineinandergerast sind. Die Eltern vollführen halsbrecherische Kunststücke zur Rettung der Familie.

»Weißes Rauschen« ist, mehr als DeLillos Roman, eine schrille Satire. Sie handelt von ernsten, heutigen Themen. Von der Zerstörung der Umwelt. Von der Anfälligkeit von Menschen für Verschwörungstheorien. Von der Todesfixiertheit nicht bloß der westlichen Zivilisation. Aber inmitten des Grauens und der Apokalypse haben Drivers Professor, ein Fachmann für Hitler-Forschung, und seine Lieben erstaunlich viel Spaß. Wolfgang Höbel

»Weißes Rauschen« USA 2022. Regie und Buch: Noah Baumbauch. Mit Greta Gerwig, Adam Driver, Don Cheadle. 136 Minuten

»An einem schönen Morgen«

Ganz langsam wächst die Distanz zwischen Mittdreißigerin Sandra (Léa Seydoux) ihrem 80-jährigen Vater Georg (Pascal Greggory). Nicht, weil sie sich entfremdet haben, sondern weil Georg an einer speziellen neurodegenerativen Krankheit leidet, die statt des Kurzzeitgedächtnisses sein Langzeitgedächtnis angreift. Die Folgen für seine Familie sind fast noch erschütternder als bei Alzheimer: Georg erinnert sich nur noch an seine jetzige Freundin. Die Erinnerungen an seine erste Frau, die zwei Töchter, an das gesamte Familienleben verblassen immer mehr. Wann er selbst Sandra vergisst, die sich aufopferungsvoll um ihn kümmert, obwohl sie alleinerziehend ist, ist nur eine Frage der Zeit.

Sandra (Léa Seydoux) mit ihrer Tochter und ihrem Geliebten Clément (Melvil Poupaud)

Sandra (Léa Seydoux) mit ihrer Tochter und ihrem Geliebten Clément (Melvil Poupaud)

Foto: Weltkino Filmverleih

Aber während Sandras Vater aus ihrem Leben tritt, kommt ein anderer Mann herein. Clément (Melvil Poupaud), ein alter Freund ihres jung verstorbenen Ehemanns, ist erst nur jemand, mit dem sich gut ein Glas Wein trinken lässt. Dann lässt sich auch gut mit ihm küssen, obwohl er verheiratet ist und ebenfalls ein Kind hat. Und plötzlich steht Sandra vor der Frage, ob sie sich zur Abwechslung mal nicht um den Vater, das Kind und den Job kümmern sollte, sondern um sich selbst, ihre eigenen Bedürfnisse – ob sie Clément auffordern soll, seine Familie für sie zu verlassen.

In bester Form zeigt sich die französische Autorin und Regisseurin Mia Hansen-Løve in ihrem bereits achten Film. Nach dem metafiktionalen Ausflug auf die schwedische »Bergman Island«  ist sie mit »An einem schönen Morgen« wieder in den bürgerlichen Wohnungen von Paris angekommen, in denen der Großteil ihrer autobiografisch durchwirkten Arbeiten spielt. Doch ihr Blick auf die Tragiken des Alltags ist umsichtiger geworden. So erzählen die Bemühungen von Sandra und ihrer Schwester, für Vater Georg ein angemessenes Pflegeheim zu finden, nicht nur von emotionalen Lasten zwischen den Generationen, sondern auch von der Pflegemisere in Frankreich.

Gleichzeitig ist da die leidenschaftliche Affäre zwischen Sandra und Clément, die nicht nur Sandras Leben, sondern den gesamten Film mit Licht und Wärme erfüllt. Bittere Enden und verheißungsvolle Anfänge verschlingen sich so in »An einem schönen Morgen« und ergeben einen Film, dessen Zartheit lang nachwirkt. Hannah Pilarczyk

»An einem schönen Morgen«. Frankreich 2022. Buch und Regie: Mia Hansen-Løve. Mit Léa Seydoux, Melvil Poupaud, Pascal Greggory, Nicole Garcia. 112 Minuten

»Irrlicht«

Inhaltsangaben zu den Filmen des portugiesischen Regisseurs João Pedro Rodrigues lohnen in der Regel nicht, denn in ihnen kann alles Erdenkliche passieren, ohne dass es dafür einen zwingenden Anlass gäbe. Es passiert einfach – und macht meist irren Spaß. So auch in »Irrlicht«, Rodrigues' ersten Langfilm seit seinem vielfach ausgezeichneten Festivalerfolg »Der Ornithologe«.

Szenenbild aus »Irrlicht«

Szenenbild aus »Irrlicht«

Foto: Salzgeber

Statt einer Inhaltsangabe deshalb einfach eine Aufzählung der Dinge, die es in »Irrlicht« zu sehen gibt: ein Monarch, der auf dem Sterbebett pupst; singende Kinder im Wald; die »How dare you«-Rede von Greta Thunberg; die Fetischisierung von Schwarzen als Folge des portugiesischen Kolonialismus; Probeeinsätze bei der Feuerwehr; Tanzeinlagen bei der Feuerwehr; schwuler Sex bei der Feuerwehr; Fado. Ergibt das alles Sinn? Wenig. Macht das Spaß? Sehr viel. Hannah Pilarczyk

»Irrlicht« Portugal 2022. Buch und Regie: João Pedro Rodrigues. Mit Mauro Costa, André Cabral, Joel Branco, Miguel Loureiro.

Im Streaming

»Guillermo del Toros Pinocchio« (auf Netflix)

Die Filme des Mexikaners Guillermo del Toro sind düster und gewalttätig, auch dann, wenn sie von Kindern handeln. Der Regisseur, der 2018 für »Shape of Water – Das Flüstern des Wassers« zwei Oscars erhielt, lässt uns die Nähe des Todes spüren. Kein Wunder, dass er seine Adaption von Carlo Collodis 1883 erschienenem »Pinocchio«-Roman in das faschistische Italien verlegt. In seinem großartigen Animationsfilm »Guillermo del Toros Pinocchio« verliert ein Holzschnitzer seinen Sohn bei einem Bombenangriff und erschafft aus Trauer über den Verlust eine Holz­puppe. Diese tritt dann auf einmal ins Leben.

Szene aus »Guillermo del Toros Pinocchio«: Unbekümmerter Held in dunklen Zeiten

Szene aus »Guillermo del Toros Pinocchio«: Unbekümmerter Held in dunklen Zeiten

Foto: Netflix

Seit Disneys Zeichentrickklassiker von 1940 ist Collodis Werk immer wieder verfilmt worden, zuletzt mit Tom Hanks in der Rolle des Vaters. Doch del Toro hat den Stoff komplett zu seinem eigenen gemacht und ihn mit viel Fantasie, Poesie und abgründigem Witz angereichert. Er feiert seine Titelfigur als unbekümmerten Helden, der viel freier wirkt als die Menschen um ihn herum. Sein Pinocchio tanzt gern aus der Reihe, was im faschistischen Italien für ziemlich viel Ärger sorgt.

Man könnte del Toro vorwerfen, dass er Politik und Fantasy nicht so zwingend miteinander verbindet wie in seinem Meisterwerk »Pan’s Labyrinth« (2006). Er ist nun mal ein Regisseur, der manchmal nicht weiß, wo er mit all seinen Ideen hin soll, der mit seinem überbordenden Einfallsreichtum aber immer wieder begeistert. Lars-Olav Beier

»Guillermo del Toros Pinocchio«. USA/Mexiko 2022. Regie: Guillermo del Toro, Mark Gustafson. Buch: Guillermo del Toro, Patrick McHale. Mit den Stimmen von Ewan McGregor, Gregory Mann, David Bradley, Christoph Waltz, Tilda Swinton. 114 Minuten

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Playlist
Speichern Sie Audioinhalte in Ihrer Playlist, um sie später zu hören oder offline abzuspielen. Zusätzlich können Sie Ihre Playlist über alle Geräte mit der SPIEGEL-App synchronisieren, auf denen Sie mit Ihrem Konto angemeldet sind.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren