FILM Was nun, Jan?
Sein Name ist Nebel. Jan Nebel. Und wie dieser Name schon sagt: Der Mann tappt im dunkeln, im undurchdringlich wabernden Nebel der Welt. Er hat keine Ahnung, was die Zukunft bringen wird, und schon die Gegenwart macht ihm schwer zu schaffen. Jan hat kein Geld, keine Frau, keine eigene Wohnung und nur einen Aushilfsjob im Schlachthof. Außerdem ist er vielleicht HIV-infiziert.
Vielleicht aber trifft der traurige Jan (besser als je zuvor: Jürgen Vogel) gerade jetzt die Liebe seines Lebens. Eines Nachts rempeln ihn fliehende Demonstranten an, unter ihnen die atemlose Vera (Christiane Paul), und ihretwegen schlägt Jan spontan einen Zivilfahnder mit einem Sechserpack Bier nieder. Vera und Jan hauen ab, aber eine Horde Polizisten im Anti-Terror-Outfit kriegt ihn, und anderntags wird Jan zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nicht bezahlen kann. Wahlweise 90 Tage Haft. Und Vera ist auch weg. Was nun, Jan?
Der Film »Das Leben ist eine Baustelle« schickt Jan taumelnd durch das Berlin der ausgehenden neunziger Jahre, durch die Schattenstadt der Arbeitslosen, Träumer und Alkoholiker, der Nachtwächter, Durchwurschtler und Proletarier in Jogginghosen: zwangsläufig das Gegenteil all der neuen deutschen Klamotten, die jeden Lacher, jede Zuschauerträne von Anfang bis Ende durchgeplant haben. »Das Leben ist eine Baustelle« wagt einen Ausflug ins Ungewisse. Im Leben weiß man ja auch nicht, was morgen kommen wird.
Und daran, daß ein Film im wirklichen Leben wurzeln, nach dem Muff des Alltags und gar der Politik riechen sollte, daran glaubt Wolfgang Becker, 42, mit geradezu orthodoxer Inbrunst. »Die Liebe in den Zeiten der Kohl-Ära« steht als Graffito an einer Bretterwand, und wenn Beckers Film überhaupt ein Motto hat, dann dieses. Die Kohl-Ära als Pest und Cholera - kein Wunder, daß der wuchtige Westfale Becker, der seit Mitte der siebziger Jahre in Berlin lebt, im vergangenen Jahrzehnt nur mit Not vier Filme verwirklichen konnte, darunter »Kinderspiele«, der ihm 1993 den Preis der Deutschen Filmkritik eintrug.
Becker ist ein Autorenfilmer alten Kalibers (diesmal stammt das Drehbuch von ihm und Tom Tykwer). Wer seine Arbeiten anschaut, begreift, warum der Autorenfilm einmal als Hoffnung galt: Becker entwickelt genau jenen Hunger auf Gegenwart, der auch Fassbinder trieb, jene Lust am Hier und Jetzt, jene Neugier darauf, wie die Leute leben und denken und reden.
Jener Bestattungsunternehmer zum Beispiel, der, nachdem Jan seinen Vater tot in dessen Wohnung gefunden hat, in der guten Stube hockt und »umweltverträgliche Sterbewäsche« feilbietet, wahlweise das »Leistungspaket 2«. Als der Kerl endlich gegangen ist, muß Jans Schwester (Martina Gedeck) lachen und lachen, weil sie gar nicht mehr weiß, wie man weint.
»Das Leben ist eine Baustelle« ist ein ganz und gar ernsthafter Film, in dem die Zuschauer dennoch erstaunlich viel zu lachen haben, ein großartig lakonischer Film aus Deutschland ohne Eitelkeiten, ohne Angst und ohne angestrengtes Schielen auf den Markterfolg - und darum verzeiht der Zuschauer der »Baustelle« auch, daß sich ihre Handlung gegen Ende gelegentlich verzettelt: zu viele Ideen, zu viele Figuren.
Denn wann schafft es ein Film schon, daß sein Titel gleich zum geflügelten Wort wird? »Das Leben ist eine Baustelle« - das trifft's. Nicht nur am Potsdamer Platz, nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Land, das ziemlich ratlos in die Zukunft schaut, in diesen verdammten Jahren vor der Jahrtausendwende.
Susanne Weingarten