KONGRESS Was sich nicht so tut
Gefragt, aus welchem Grunde sie zum VIII. Deutschen Kongreß für Philosophie, der vergangene Woche in Heidelberg stattfand, gekommen seien, antworteten viele der rund 560 deutschen und der etwa 40 ausländischen Teilnehmer dem Sinne nach: »Hören, was sich so tut« - und einer: »Hören, was sich nicht so tut.« Dieser, ein deutscher Professor, kehrte am Donnerstag mit reicher Beute heim: Es hatte sich vieles nicht getan.
Ethik und Politik, Gesellschaft und Naturwissenschaften, einst zentrale Themen philosophischen Forschens, sie erschienen allenfalls als undeutliche Schemen am Horizont der Vorträge und Diskussionen.
Selbst die Metaphysik, die Lehre von den Dingen jenseits der Wirklichkeit, seit je ein Lieblingskind deutscher Denker, kam nicht zu Worte. Sie sei, beklagte Professor Hans-Georg Gadamer, bis letzte Woche Präsident der »Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland« und Organisator des Kongresses, in seiner Eröffnungsrede, als »Klassenideologie des Bildungsbürgers« denunziert worden.
Als Generalthema hatte sich der Kongreß das »Problem der Sprache« gesetzt - nicht von ungefähr: Angesichts der Zerrüttung der Metaphysik, angesichts des Zerfalls der Wissenschaft in zahllose hochspezialisierte Fachrichtungen meldet sich, nicht zuletzt unter den Fachwissenschaftlern selbst, das Bedürfnis, das »Ganze«, von dem die Wirklichkeit her begriffen werden kann, in den Blick zu bekommen.
Als einziges Medium stehe dafür, so Gadamer, heute die Sprache zur Verfügung. Schließlich seien alle Wissenschaften durch das einigende Band der (Alltags-) Sprache verbunden. Sie sei die einzige »Antizipation des Ganzen«, sie habe darum im Mittelpunkt des philosophischen Forschens zu stehen.
Der erste Tag des Kongresses war - einem bereits ehrwürdig gewordenen Brauch zufolge - für Deutschlands Jungdenker freigehalten. Die meisten der Aspiranten auf Deutschlands 68 philosophische Lehrstühle leugneten nicht das Problem der Sprache, viele indes meldeten vorsichtig Zweifel an der Fähigkeit der Alltagssprache an, Wirklichkeit auszudrücken, und plädierten, den Weg der modernen Logik zu gehen, welche die Alltagssprache durch eine Kunstsprache, ein System von Zeichen und Symbolen, ablösen will.
Das Problem der Sprache - am Dienstag und Mittwoch in sieben Kolloquien erörtert - war freilich vielen nichtphilosophischen Gästen zu wirklichkeitsfremd. Bereits am Sonntag hatte Baden-Württembergs Kultusminister Hahn die Denker gemahnt, »im besten Sinne aktuell zu sein«.
Doch die Minister-Mahnung blieb ohne Resonanz. So zeigten die Philosophen auch nur geringes Interesse für die Nachricht, wonach ihr Hamburger Kollege und Physiker Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker vier Tage zuvor auf dem Physikertag in München von einem philosophischen Ansatz her eine neue »Weltformel« angekündigt habe (siehe Seite 167). Weizsäcker auf einem Empfang des Kultusministers Hahn für die Kongreß-Honoratioren: »Davon verstehen Philosophen doch nichts.«
Mit dem Problem der Sprache befaßt, demonstrierte der Kongreß selbst bei Wein und Häppchen die Dringlichkeit eben dieses seines Themas - nämlich, wie schwierig in der modernen Welt »Verständigung« (Gadamer) ist.
So bezweifelte denn auch der Bochumer Philosoph Professor Hermann Lübbe, ob Sprache überhaupt immer auf Verständigung abzielt. Zum Beispiel sei die Sprache der Politik kein Mittel der Verständigung und der Information, sondern ein Mittel zur Durchsetzung von Zwecken: »Die Sprache der Politik ist weder musikalisch noch mystisch noch wissenschaftlich.«
Lübbes brillantes Referat belegte den resignierenden Satz, den Philosophen-Präsident Gadamer zur Eröffnung gesagt hatte: »Die Entthronung der Philosophie hat begonnen.«
Der Freiburger Philosoph Werner Marx war eine Nuance optimistischer: »Vielleicht ist ein junger Mann hier, der etwas hört und dann eigene Gedanken entwickelt.«
Philosoph Gadamer
Beginn der Entthronung