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Artikel 56 / 80

»Welches Gemetzel durch das neue Raubtier«

SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth mit Touristen auf den Galapagos-Inseln Die Beobachtung der seltsamen Tierwelt auf den Galapagos-Inseln gab dem Naturforscher Charles Darwin den entscheidenden Anstoß für seine Theorie über »Die Entstehung der Arten«. Darwin gelangte 1835 mit dem Forschungsschiff »Beagle« zu dem Archipel. Heute besuchen Scharen von interessierten Touristen die Inselgruppe am Äquator, deren lehrreiche Artenvielfalt vom Menschen und von fremden Tieren bedroht ist. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Nichts könnte weniger einladend sein als die erste Erscheinung«, schrieb der Naturforscher Charles Darwin am 17. September 1835 in sein Reisetagebuch, als er sich zu Schiff der Insel San Cristobal am äußersten Rand des Galapagos-Archipels näherte: »Ein zerklüftetes Feld schwarzer basaltischer Lava, welche in die verschiedenartigst zerrissenen Wellen geworfen.«

Von einem »Küstenstrich für ein Pandämonium«, von »höllischen Gestaden« sprach auch der Kapitän der »Beagle«, Robert FitzRoy, der den jungen Darwin mit auf eine Forschungsreise für die britische Admiralität genommen hatte. Und der Dichter Herman Melville, Verfasser des »Moby Dick«, des Epos einer Jagd auf den weißen Wal, fand sechs Jahre nach Darwin: »Es ist kaum anzunehmen, daß es irgendwo auf der Erde einen Fleck gibt, der sich an Trostlosigkeit mit dieser Inselgruppe vergleichen läßt.« Er habe, als er mit dem Walfänger »Acushnet« die »Islas Encantadas«, die verwunschenen Inseln, anlief, »größtenteils eine Inselwelt der Dürre« angetroffen, »ohne Bewohner und ohne Geschichte und in alle Ewigkeit ohne Aussicht, daß sie zu Bewohnern und Geschichte kommt«.

Nun gibt es doch so etwas wie Geschichte für die Inselgruppe unter dem Äquator - die Geschichte eines Naturparks, in dem der Besucher kein Tier anfassen, keinen Zweig brechen, keine Muschel auflesen und keinerlei Stückgut aus der zivilisierten Welt hinterlassen darf. Dieser Bedingung müssen sich die Passagiere unterwerfen, schon wenn sie im ecuadorianischen Hafen Guayaquil an Bord eines der hochseetüchtigen Kreuzfahrtschiffe gehen, um nach einer meerdurchstampften Nacht die so »wenig einladende Erscheinung« der Inselgruppe in Augenschein zu nehmen.

In den 60er Jahren kamen allenfalls 2000 Besucher in zwölf Monaten, bereits 18 000 stellten sich 1982 ein, als in den westlichen Medien des 100. Todestages von Darwin und des Ursprungsortes der Evolutionstheorie gedacht wurde. Ein seltsamer Tourismus hat sich auf Galapagos entfaltet: alles andere als Südseezauber in einer provozierenden Landschaft.

Wie eine schwimmende Herde dunkler Seeungeheuer sieht die Inselgruppe im Dunst auftauchen, wer sich - ohne Pauschalarrangement - mit dem Flugzeug nähert. Gleich nach der Landung auf dem Inselchen Baltra, noch in der Baracke des Flughafens, muß der Einreisende erklären, daß er die naturbewahrenden Gesetze von Galapagos respektiert.

Als sei es ein Stück Zivilisationswelt, Jahre nach einer Katastrophe, wenn wieder kröpeliger Bewuchs aus unzähligen Schrunden aufgebrochenen Betons gekrochen ist, so etwa wirkt Baltra auf den ersten Blick des Besuchers. Der Bus rumpelt, in vielen Schleifen Büschen und Kakteen ausweichend, über ein Flugfeld aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die USA auf der strategisch für eine Kontrolle des Panama-Kanals günstig gelegenen Insel einen Luftstützpunkt unterhielten. Die Soldaten, die damals in

ihrer quälenden Langeweile Zielschießen auf alles machten, was sich bewegte, haben die Fauna der Insel weitgehend vernichtet. Menschen wohnen hier nicht mehr, seit Baltra nach Kriegsende an Ecuador zurückgegeben wurde.

Ein Fährmann mit leichtem Boot setzt die Reisenden über auf Santa Cruz, die zweitgrößte Insel des Archipels, und nach gut zweistündiger Busfahrt, vorbei an einigen Zeichen menschlicher Existenz durch kümmerliche Landwirtschaft, ist eine Ansiedlung von etwa 3000 Leuten erreicht: Puerto Ayora, atmosphärisch das einstige Fischerdorf geblieben, obwohl einige einfache Herbergen hinzugefügt wurden; die Lebensgrundlage sind nun die Touristen, nicht mehr die Fische.

Von hier aus startet eine Flotte kleiner Motorschiffe, von denen jedes ein knappes Dutzend Passagiere mitnimmt, in den Archipel der auf 40 000 Quadratkilometer verstreuten Inseln: dreizehn größere und zahlreiche kleinere, zusammengenommen eine Landmasse von rund 7800 Quadratkilometern, halb soviel wie Schleswig-Holstein, mit noch einigen unerforschten Flecken; man könnte Jahre darauf verwenden, dieses Gebiet zu durchstreifen.

Der gewöhnliche Reisende bleibt kaum länger als zwei Wochen. Er muß erst einmal organisieren, manchmal dauert es Tage, bis sich Kapitän und Passagiere für eine bestimmte Route finden. Drei Deutsche und ein Schweizer, die sich zufällig treffen, dazu ein Paar aus USA - unsere Tour auf der »Tiburon«, einem Motorschiff mit drei Minikabinen und Kombüse, drei Mann Besatzung, kann beginnen.

Auf jedem Schiff muß mindestens ein ausgebildeter Führer des Nationalparks mitfahren, nur in seiner Begleitung ist den Passagieren der Landgang gestattet. Zur Erkundung der Inseln auf eigene Faust mit einer ortsfremden Jacht aufzukreuzen bedarf schon eines gewissen Sinns für Piraterie: Aufgebracht zu werden, ein paar Tage im Gefängnis verbringen und Strafe zahlen zu müssen, ist das Risiko.

Die Kapitäne der lizensierten Flotte halten ihr Revier unter Kontrolle, und die Bewacher des Naturparks kontrollieren die Kapitäne, daß sie nicht die für Touristen verbotenen Inseln oder Buchten anlaufen, sondern nur eine Reihe ausgewählter Plätze. _(Die unbewohnten Inseln Pinta, Marchena, ) _(Culpepper und Wenman sind nur ) _(Wissenschaftlern zugänglich, ebenso der ) _(größte Teil von Fernandina und die ) _(nördliche Hälfte von Isabela. )

Dieses erst in den letzten Jahren eingeführte Überwachungssystem scheint, wie Wissenschaftler feststellten, die Natur trotz der durchgeschleusten Tausendschaften vor Schäden zu bewahren. Ein jeder muß sich in eine Art Unmündigkeit begeben, dem Führer in der Horde nachtrotten, darf keinen Schritt vom ausgepflockten

Weg abweichen: Es könnte ja ein Ei zertreten, eine Pflanze sinnlos zerstört oder ein Tier unnötig aufgeschreckt werden.

Unser Führer, eine Frau, gängelt uns mit ständiger Zurechtweisung. Wir, die Zivilisationsmenschen, gewöhnt an unser Herrschertum über die Natur, haben eine ehrfurchtsvolle Gangart anzunehmen, eine demütige Haltung gegenüber dem Leben anderer Arten.

Vorsichtig, wie wir uns bewegen, hört der Seelöwenbulle auf, uns mit seinem heiseren Gebrüll auf Abstand zu halten, er duldet uns als Schwimmer in seiner Bucht. Manches Junge taucht unter uns hinweg, schießt neben uns auf aus dem Gischt, wie wenn wir dazugehörten zu den Wesen, die das Element Wasser bevölkern. Auch die Robben flüchten nicht in ihr unterirdisches Labyrinth an der zerklüfteten Lavaküste, als wir zu ihnen in ihr Naturschwimmbad steigen.

Unter dem Äquator Grüße aus der Antarktis in Gestalt von Pelzrobben und Pinguinen, deren Vorfahren irgendwann einmal, vielleicht auf einem Eisberg, im Sog des kalten Humboldtstroms in die tropischen Gefilde kamen und sich der neuen Umgebung anpaßten. Darwin sah die aus dem südlichen Eismeer verschlagenen Arten nicht.

Doch wie wir bahnte er sich manchen Weg durch das Pandämonium der Meerechsen: Als wäre die Urwelt noch gegenwärtig, so bevölkern die schwärzlichen Kleinungeheuer das schwärzliche Vulkangestein, die hornigen Köpfe über stacheligem Kamm erhoben, die plumpen Leiber gestützt auf prankige Glieder, die fleischigen Schwänze hingestreckt zu einem Drunter und Drüber aus Schuppenhaut und Leibern.

Wie die Reptilien, die vor unseren Füßen nur ein Stück ausweichen und sich gleich wieder gemächlich niederlassen, haben auch die Vögel kaum Angst vor uns. Unbeirrt über unsere Ankunft in ihrem Revier watscheln die Blaufußtölpel, wirklich auf blauen Füßen, ihres Weges, ohne Scheu lassen sich Pelikane dicht bei uns nieder; die Kormorane, in feindloser Umwelt flugunfähig geworden, zelebrieren vor uns ihre zwischen Paaren üblichen Höflichkeitsrituale, den flaumigen Jungen der Fregattvögel können wir so nah kommen, daß wir ihren Atem hören.

Die Zahmheit der Tiere entzückt die Touristen, ja sie ist die eigentliche Attraktion der Inseln, gemahnt sie doch an paradiesische Zustände. Tätschelnde Hände strecken sich aus, die pseudotierliebe Hätschelei ist eine zivilisatorische Variante jener kindischen Tötungslust, die von der Arglosigkeit dieser Tiere angestachelt zu werden scheint. Schon Darwin beschrieb das »grausame Vergnügen« der Matrosen, »die kleinen Vögel totzuschlagen«. Dieser Spaß muß schon lange üblich gewesen sein, denn dem Forscher gelang es nicht mehr, eine mollige Taube - wie er in einem Reisebericht aus dem 17. Jahrhundert gelesen hatte - einfach mit einem Hut einzufangen. Die Vögel hatten schon dazugelernt.

Doch auch ein weiteres Jahrhundert menschlichen Wütens konnte der Tierwelt von Galapagos nicht jenes für die Bewohner der Kontinente typische Fluchtverhalten einschleifen. Gegen ein knappes halbes Jahrtausend, das vergangen ist, seit der Bischof von Panama, Tomas de Berlanga, wider Willen durch ungünstige Winde zum Entdecker der Inseln wurde (1535) und damit die Spezies Mensch auf dem Archipel einführte,

stehen ein paar Millionen Jahre, während derer sich die von Luft- und Wasserströmungen herangetragenen Tiere furchtlos entwickeln konnten, da ein räuberischer Landsäuger ausblieb.

In diesem, wenn auch kargen Garten Eden kam Darwin allerdings auch in den Sinn, »welches Gemetzel die Einführung irgendeines neuen Raubtieres in einem Lande verursachen muß, ehe die Instinkte der eingeborenen Bewohner sich der List oder der Kraft des fremden Ankömmlings angepaßt haben«.

Die Anpassung der Arten und darüber hinaus ihre Veränderlichkeit erschlossen sich dem Naturforscher wie ein Mosaik, das er aber erst 24 Jahre nach seinem Besuch auf Galapagos zu präsentieren wagte. Wichtige Steine im Gedankenmuster waren die Finken mit Schnäbeln verschiedenster Variationen, von kräftigem Zuschnitt für Kernknackerei bis hin zu zierlicher Form für Insektenschnapperei, je nach der Nahrung, die sich in verschiedener Umgebung bot.

Des gleichen wurden die Eilande, zwischen denen es über Jahrmillionen keine Verbindung gab, und sogar einzelne Vulkan-Krater von unterschiedlichen, untereinander nicht mehr kreuzbaren Arten der Riesenschildkröte bewohnt: solchen, die auf stummeligen oder emporragenden Elefantenbeinen daherkamen, die ihre Faltenhälse nur kurz zum Äsen in Bodennähe oder aber lang zum Abknabbern hochstämmiger Kakteen auszustrecken vermochten, anderer, deren Panzer rundlich oder sattelförmig gebogen waren, deren Fleisch würzig oder fad schmeckte.

Reptilien in den ökologischen Nischen, die auf dem Festland pflanzenfressende Säugetiere besetzten, dazu die Finken, die sich, vermutlich aus einem Pärchen, in eine ganze Vogelschar aufgefächert hatten - die Stammesgeschichte präsentierte sich hier in so verrückten Kapriolen, daß ein Naturphilosoph wie Darwin ihr Wesen als das einer Geschichte der Veränderungen erkennen mußte.

Auf James, wo er sich mit dem Schiffsarzt und Dienern für eine Woche aussetzen ließ, während die »Beagle« Wasser suchte, schrieb er in sein Tagebuch: »Wir scheinen daher in beiden Beziehungen, sowohl im Raume als in der Zeit, jener großen Tatsache - jenem Geheimnis aller Geheimnisse -, dem ersten Erscheinen neuer lebender Wesen auf der Erde, nähergebracht zu werden.«

In die Anfänge zu reisen, dieses Gefühl stellt sich manchem von uns immer wieder ein. Die Landschaft mag es hervorrufen. Daß unsere Welt aus glühender Substanz geschrumpft ist, scheint hier noch spürbar: Formationen, als sei Brei aus gigantischen Kesseln übergekocht, Skulpturen, wie von irrsinnsüberwältigten Meistern geschöpft zwischen Feuer und Wasser.

Von der Unversöhnlichkeit der Elemente geprägt (doch bis in die Gegenwart durch Vulkanausbrüche verändert), sind die Galapagos-Inseln vor etwa drei Millionen Jahren entstanden, in vulkanischer Eruption aus dem Meer aufgetaucht. Sie sind etwas jünger als die Menschheit - jugendlich, gemessen am Alter der Erde (4,5 Milliarden Jahre). Eine Ahnung von ihrer Ödnis, die länger währte als ihre Bewohnbarkeit, stellt sich auf den weiten Lavafeldern ein; es ist, als wandere man aus dunkler Vorzeit in den Triumph des Lebens, wenn man wieder in bewachsene Gegend kommt.

Hat sich die Welt seit Darwin noch so sehr verändert - der Raum, wo ihm einer der Schleier vor dem Geheimnis aller Geheimnisse zerriß, trotzte dem Ansturm aus neuer Zeit wie sein Gedankengebäude.

Wenn sich auch hoch über uns ein Flugzeug auf den Archipel herabzusteigen anschickt und wir dank Motorkraft

auf der »Tiburon« vorantuckern, während die »Beagle« dem Wind ausgeliefert war, bewegen wir uns doch in einem Mikrokosmos, den wir aus Darwins Reisetagebuch schon zu kennen meinen.

Die Urlandschaft, oft »fremdartig, zyklopisch«, dann wieder »sowohl malerisch als merkwürdig«, ist weitgehend unzerstört: Auf 96 Prozent der Inselmasse befinden sich weder Ansiedlungen noch Anpflanzungen. Es herrscht schiere Natur. Wir finden die Vegetation überwiegend von jenem »elenden, unkrautigen Aussehen«, nur selten von jener hellgrünen, saftigen Üppigkeit, die schon Darwins Auge »ergötzte«. Wie die Reisegruppe der »Beagle« werden wir von Darwin-Finken umhüpft, nur daß sie damals den Ehrennamen nicht trugen.

Und doch fehlen dem Pandämonium mancherorts die markantesten Geschöpfe: Als wären die Drachen in Miniatur aus allen Sagen der Welt geschlüpft, so übervölkert von Landleguanen muß die Insel James im letzten Jahrhundert gewesen sein. Darwin konnte »keinen eindringlicheren Beweis für ihre Menge geben«, als daß er eine Zeitlang keinen Platz für sein Zelt finden konnte.

Kein einziges dieser Urviecher kriecht uns entgegen. Ausgestorben. Auch finden wir keine der kolossalen Schildkröten, es bleibt der erregende Moment aus, da »diese ungeheuren Reptilien in der Umgebung von schwarzer Lava wie irgendwelche vorsintflutlichen Tiere« erscheinen.

Als Darwin die Insel James besuchte, waren die Elefantenschildkröten, obwohl zwei spanische Fänger eine lohnende Einsalzerei betrieben, noch so zahlreich, daß er auf ihren ausgetretenen, sternförmig zu einer Quelle führenden Wegen die Insel erkunden konnte und sich manches Mal von so einem »kolossalen Geschöpf« tragen ließ ("Ich fand es aber sehr schwierig, das Gleichgewicht zu halten").

Vielleicht 500 Schildkröten sind übriggeblieben, etwa eine pro Quadratkilometer; deshalb ist es unwahrscheinlich, daß Touristen einem der Panzertiere begegnen.

Ziegen springen über unseren Weg. Der Kapitän fängt eine und schlachtet sie auf dem Schiffsdeck, um sie uns zum Abendbrot zu servieren. Wir verspeisen einen Schädling an der Urnatur, einen Nachkommen jener paar Ziegen, die Anfang des 19. Jahrhunderts von Seeleuten ausgesetzt worden sind.

Sie vermehrten sich derart, daß schon Darwin »viele« wahrnahm, 120 Jahre später waren sie zu einer Gefahr für das berühmt gewordene »Laboratorium der Stammesgeschichte« geworden, wie der Zoologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt erkannte, als er 1954 auf der »Xarifa« des Unterwasserforschers Hans Hass nach Galapagos kam.

Wie vorher schon in der übrigen Welt, so vollzog sich auch in dieser Arche Noah die Verdrängung der Reptilien, die sich da zu größter Vielfalt hatten entfalten können, weil Millionen Jahre Konkurrenz von Säugetieren ausblieb.

Die Ziegen weideten ganze Landstriche kahl, so daß Schildkröten und Landleguane nicht genug Nahrung fanden. Ihre Eier wurden von entsprungenen Schweinen aus der Erde gewühlt. Auf Schildkrötenjunge stürzten sich verwilderte Hunde, die auch die Miniaturdrachen jagten und töteten, obwohl sie diese gar nicht fraßen. Hausmäuse unterwühlten _(Skizze von Darwins Zeichner. )

den Boden, so daß der Bewuchs noch kümmerlicher wurde. Invasionsheere von Ratten zernagten die ökologische Balance: Wo sie hausten, da lagen auch Haufen von Schildkrötenschalen herum, die frisch geschlüpften Reptilien waren die Beute der Nager geworden.

Mehr noch als durch sein eigenes Räubertum hat der Mensch den Archipel gezeichnet, indem er fremde Arten einschleppte und sich verbreiten ließ. Eibl-Eibesfeldt fand aber auch viele Anzeichen »menschlicher Barbarei« - obwohl Ecuador die Tierwelt bereits 1935, zur hundertjährigen Wiederkehr von Darwins Besuch, unter Schutz gestellt hat.

Auf seiner Suche nach Riesenschildkröten stieß der Seewiesener Verhaltensforscher auf »ein einziges Leichenfeld« aufgebrochener Panzer, darunter auch ganz frische. Er entdeckte eine Reihe verwesender Seelöwen und fand heraus, daß die Fischer sie gewohnheitsmäßig nur deshalb erschlugen, weil sie ihnen Konkurrenz beim Fischen machten. Auch den Pelzrobben, begehrt wegen ihres Felles, drohte Ausrottung. Die Siedler schossen Seevögel und nahmen Nester aus. Selbst den Flamingos bot ihre Anmut keinen Schutz, auch sie wurden Braten. Um die Gesetze kümmerte sich niemand.

Eibl-Eibesfeldt sah »klar« voraus, daß »dieses Inselparadies sehr bald von seiner einzigartigen Fauna entblößt« sein würde, wenn nichts geschähe. Er mobilisierte die Unesco und wurde alsbald in ihrem Auftrag erneut auf die Inseln entsandt, um zusammen mit einem kalifornischen Zoologen ein Rettungsprogramm zu entwickeln.

Ecuador übernahm den Vorschlag, einen Nationalpark mit verschiedenen Zonen einzurichten: begrenzt nutzbare Pufferzonen in der Nähe der Siedlungen, daneben eine Reihe von Naturschutzgebieten, zu denen - außer den Wissenschaftlern - niemand Zutritt hat.

Das ecuadorianische Landwirtschaftsministerium baute ein Kontrollsystem auf, in der Nähe von Puerto Ayora wurde die Forschungsstation »Charles Darwin« etabliert.

Der World Wildlife Fund beteiligte sich, die Frankfurter »Zoologische Gesellschaft von 1858« schickte Geld, das der Zoologe Bernhard Grzimek im deutschen Fernsehen eingeworben hatte. Vor allem aber trägt Ecuador, ein Land, in dem noch viele Menschen hart am Hunger leben, die finanziellen Lasten für die Wiedergutmachung an der Natur.

Es erstaunt den deutschen Besucher, als Leiter der Station einen Deutschen vorzufinden, und auch der Zoologe Friedemann Köster empfindet, obwohl er gern mit Frau und Kindern auf Galapagos lebt, seine Situation als nicht ganz selbstverständlich. »Wir, die so viel kaputtgemacht haben, ermahnen Leute eines Entwicklungslandes: Kinder, ruiniert eure Welt nicht! Wenn man das aus dem Mercedes heraus einem Bauern ohne Schuhe sagte, dann denkt der doch, man spinnt.«

Nur allmählich läßt sich der Gedanke vom Naturschutz den Siedlern einbleuen - etwa 8000 leben verteilt auf vier Inseln. Aber wenigstens die Touristen sind unter Kontrolle. Auch verhinderte die Station, daß sich ein Hotelkonzern mit Betonklötzen auf den Inseln niederließ.

Es ist ein wenig schizophren: Die Gattung Mensch, der die Ausrottung der Schildkröten beinahe gelang, bemüht sich nun um deren künstliche Aufzucht.

Zur Legzeit schwärmen Mitarbeiter der Station auf verschiedene Inseln aus und sammeln die gefährdeten Eier ein. In wohltemperierten Kästen schlüpfen, nach manchen Fehlschlägen, nun tatsächlich Junge aus, kaum so groß wie eine Hand. Die Winzlinge, aus denen später Kolosse bis zu 300 Kilogramm werden, kommen in Gehege, bis sie nach einigen Jahren keine leichte Beute mehr sind und damit reif für die Repatriierung.

An die 600 Tiere wurden bereits wieder ausgesetzt, und es scheint, als könnten sie überleben. Ob sie auch fortpflanzungsfähig sind, wird sich erst nach ihrer Geschlechtsreife, in 20 bis 30 Jahren, herausstellen.

Trotz dieser Ungewißheit werden weiterhin Schlüpflinge aufgezogen. Denn auf natürliche Weise vermehrt sich nur noch eine Population von etwa 5000 Schildkröten, die erst im letzten Jahrzehnt

im Krater des Vulkans Alcedo auf der Insel Isabela entdeckt wurde.

Von der Insel Espanola wurden die letzten 17 fortpflanzungsfähigen Exemplare, die einander zur Paarung nicht mehr finden konnten, in den Garten der Station gebracht, wo sie wieder Nachwuchs haben.

Für »Lonely George« allerdings, den letzten Überlebenden seiner Rasse von der Insel Pinta, wurde trotz Auslobung von 10 000 Dollar kein Weibchen gefunden, nicht auf seiner unzugänglichen Ursprungsinsel und auch nicht in den Zoos der Welt. Mit ihm wird eine weitere Spezies untergehen, wie bereits auf den Inselchen Santa Fe und Jervis geschehen, aber auch auf Floreana, wo noch zu Darwins Zeiten die Besatzung einer Fregatte nur einen Tag brauchte, um 200 Exemplare zusammenzubugsieren.

Die verschiedenen Miniaturdrachen von vier Inseln hingegen scheinen gerettet werden zu können. Die künstliche Bebrütung von Gelegen der Landleguane läßt sich günstig an.

Hege den einen, Tod den anderen: Jagdgesellschaften zogen im Auftrag der Station aus und schossen Hunderte von Ziegen, Schweinen und Hunden. Doch die Fremdlinge lassen sich nur auf den kleineren Inseln ausrotten, wie etwa auf Santa Fe (24 Quadratkilometer), wo nun die Landleguane wieder Terrain gewinnen und Szenen zu sehen sind, wie von Darwin beschrieben: »Sie bleiben oft stehen und träumen ein bis zwei Minuten vor sich hin mit geschlossenen Augen«, und manchmal knabbern Drache und Fink an einem Stück Kaktus, bis schließlich der Vogel »mit der allergrößten Gleichgültigkeit dem Reptil auf den Rücken« hüpft.

Auf größeren Inseln triumphiert nach wie vor die Spezies Ziege über die einheimischen Tiere. Die Unwegsamkeit schützt die Gehörnten vor Nachstellungen. Die Jagd überstehen in Lavaspalten immer ein paar Exemplare, und bald ist da wieder eine Schar. Die Galapagos-Ziege, von strotzender Gesundheit, ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Adaptation an schwierige Verhältnisse.

In einem Krater entwickelte sich sogar eine wilde Rinderherde, die ein ausgesandter Jäger als biologische Kostbarkeit erkannte und verschonte. Beinahe wieder zur Urform ihrer Rasse geworden, könnten die Rinder dereinst zur Blutauffrischung von degeneriertem Zuchtvieh dienen.

Wie man der Ratten und Mäuse Herr werden soll, die Naturschützer wissen es noch nicht. Ratlos stehen die Wissenschaftler einem neuen Phänomen gegenüber: dem Vormarsch der kleinen roten Feuerameise.

Seit sie in den dreißiger Jahren zum erstenmal gesehen wurde, hat sie alle bewohnten Inseln des Archipels erobert. Diese Art, gleichsam die Ratte in der Welt der Ameisen, zeichnet sich durch einen hohen Sozialisationsgrad aus, deshalb kann sie sich derart vehement verbreiten. Ihr werden viele andere Tierarten weichen müssen, so fürchten die Forscher der Station, wenn sie auch die ökologische Kettenreaktion noch nicht genau abzuschätzen vermögen.

Es ist trotz aller Bemühungen ein gefährdetes Eden, das wir nur betreten dürfen, wenn wir unsere Schuhe sorgfältig im Meer gewaschen haben, um bloß keine Ameise und auch kein Samenkorn von einer zur anderen Insel zu übertragen.

»Survival of the fittest«, nach diesem erbarmungslosen Gesetz der Natur werden auch auf Galapagos die am besten angepaßten Individuen und Arten überdauern. Kann sein, es sind die Ratten und die Ameisen.

[Grafiktext]

Die Galapagos - Inseln Verbreitung der Elefanten-Schildkröte (zwölf anerkannte Rassen) ausgestorbene Rassen (drei) Schildkröten- Umzug und -Repatriierung nur für Wissenschaftler zugängig Flughafen PINTA CULPEPPER WENMAN MARCHENA Äquator JAMES Alcedo BALTRA JERVIS FERNANDINA PINZON SANTA CRUZ Puerto Ayora Charles-Darwin-Forschungsstation SANTA FE Puerto Baquerizo Villamil PAZIFIK SAN CRISTOBAL ISABELA FLOREANA ESPANOLA Die Galapagos-Inseln Kilometer Kilometer

[GrafiktextEnde]

Die unbewohnten Inseln Pinta, Marchena, Culpepper und Wenman sindnur Wissenschaftlern zugänglich, ebenso der größte Teil vonFernandina und die nördliche Hälfte von Isabela.Skizze von Darwins Zeichner.

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