Weltuntergangs-Vision aus dem Computer
Die Zukunftsforscher verfielen auf eine Parabel. In einem Gartenteich wächst eine Lilie. so schildern vier Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), die jeden Tag auf die doppelte Größe wächst. Innerhalb von 30 Tagen kann die Lilie den ganzen Teich bedecken und alles andere Leben im Wasser ersticken. Aber selbst am 29. Tag denkt niemand daran, sie zurückzuschneiden: noch ist ja die Hälfte des Teiches frei. Aber schon am nächsten Tag ist kein Wasser mehr zu sehen.
Nach dem Urteil der Wissenschaftler -- Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers und William W. Behrens III -- hat für die Menschheit der 29. Tag bereits begonnen. Denn Bevölkerung, Nahrungsmittelbedarf. Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Ausbeutung von Rohstoffen nehmen nach dem Muster der Lilie zu. das Mathematiker als exponentielles Wachstum bezeichnen --
Wenn die Menschen sich weiterhin so vermehren wie bisher, wenn Umweltverschmutzung, Industrialisierung, Nahrungsmittelmangel und Rohstoffverbrauch so rapide steigen wie bislang, so schlußfolgert das MIT-Forscherteam in einer soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Studie*, »werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.
Den Menschheits-Kollaps für spätestens im Jahr 2100 ermittelten Meadows und seine insgesamt 16 Kollegen in rund 18monatiger Arbeit mit Hilfe eines Weltmodells, in dem sie Entwicklungstrends und ihre Ursachen, ihre Wechselwirkungen und die sich ergebenden Folgen für rund ein Jahrhundert mathematisch zu erfassen versuchten. Inspiriert hatte die Prognose der Club of Rome, der 1968 auf Anregung des italienischen Industriellen Aurelio Peccei von Wirtschaftlern und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen als Diskussionsforum gegründet worden war. Das Geld für die Studie gab die Stiftung Volkswagenwerk.
In ihrem Weltmodell rechneten die MIT-Forscher verschiedene denkbare Ereignisse der Menschheitsentwicklung durch. Im Computer simulierten sie beispielsweise Veränderungen der Geburtenrate, Sterblichkeit, Kapitalinvestitionen und Nahrungsmittelproduktion. Sie analysierten, welche Faktoren sich am ehesten ändern und wie stark und wann das geschieht.
So stellte sich das Forscher-Team beispielsweise die Frage, wie viele Menschen theoretisch auf der Erde ernährt werden könnten, wenn die Menschheit bereit wäre, die hohen Kosten zur Urbarmachung alles bebaubaren Landes zu zahlen und soviel Nahrungsmittel wie irgend möglich herzustellen.
Das Ergebnis des Computer-Spiels: 1970 betrug die Weltbevölkerung etwa 3,6 Milliarden bei einer Wachstumsrate von 2,1 Prozent und einer Verdoppelungszeit von 33 Jahren. Unter der Voraussetzung, daß sich die Bevölkerung entsprechend der gegenwärtigen Wachstumsrate weiter vermehrt, »muß selbst unter der optimistischen Annahme, daß alles potentiell bebaubare Land landwirtschaftlich genutzt würde, schon vor dem Jahr 2000 eine hoffnungslose Landknappheit auftreten«.
Denn, so die Wissenschaftler, auf der Erde gibt es etwa 3,2 Milliarden Hektar bebaubares Land. Bei der gegenwärtigen landwirtschaftlichen Produktivität werden 0,4 Hektar zur Ernährung jedes Menschen benötigt. Obendrein benötigt jeder zusätzliche Mensch durchschnittlich 0,08 Hektar als Lebensraum -- etwa um zu wohnen, als Straßenfläche. für Abfallbeseitigung.
»Daß der wachsende Bodenbedarf ... in absehbarer Zeit gegen eine endgültige Grenze stößt«, folgern die Wissenschaftler, »ist auch bei der idealsten Entwicklung (Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität um ein Vielfaches. keine Preisgabe landwirtschaftlicher Nutzflächen für Städte- und Straßenbau) unvermeidlich« (siehe Graphik Seite 126).
Nicht minder trübe Aussichten errechneten die Zukunftsforscher für die Frischwasserversorgung, die Rohstoffquellen, das Industriewachstum, die Umweltverschmutzung. Im Modellversuch schloß sich -- selbst zu optimalen Bedingungen wie perfekter Geburtenkontrolle, Nutzung der Atomenergie, Wiederaufbereitung natürlicher Reserven -- immer der gleiche Regelkreis: Das Wachstum wird spätestens bis 2100 zum Stillstand kommen.
So führt der immer schneller steigende Bedarf an Rohstoffen wie öl, Mineralien und Metallen zur immer größeren Verknappung. Preissteigerungen für Rohstoffe haben zur Folge, daß den Unternehmern die Gelder für Industrieinvestitionen fehlen. Schließlich sind Verschleiß und Wertminderung der Produktionsanlagen größer als die Investitionsmöglichkeiten. Bricht die Industrie zusammen, kollabieren auch Dienstleistungsgewerbe und Landwirtschaft. Ist dieser Zustand erreicht, schnellt die Sterberate steil nach oben, die Weltbevölkerung nimmt rapide ab. Das Ende der Menschheit steht bevor.
Will die menschliche Gesellschaft überleben, so urteilen die Kassandra-Rufer aus Amerika, dann muß sie schon bald auf jegliches Wachstum zugunsten eines »globalen Gleichgewichts« verzichten. Dann -- das sind ihre »Mindesterfordernisse« -- darf unter anderem möglichst schon von 1975 an die Geburtenrate nicht größer als die Sterberate sein, soll die durchschnittliche Industrieproduktion pro Kopf der Bevölkerung stabilisiert, müssen die Lebensdauer der Erzeugnisse verlängert, die Leistungskraft der Gesellschaft von der Industrieproduktion auf Dienstleistungen wie etwa Gesundheitsfürsorge und Erziehung umgelenkt werden.
Ein solcher Wandel -- würde er vollzogen -- hätte beträchtliche Implikationen: Wo der Optimismus des ewigen »going to the west«, des Vorwärtsstürmens in immer neue Leerräume, zu Ende geht, müßte der liberal-kapitalistische Fortschrittsglaube seine Unschuld, der Leistungswille des Eroberns seine Zuversicht verlieren.
Johann Baptist Metz, Professor für Fundamentaltheologie in Münster und Vater der sogenannten politischen Theologie, leitete aus der MiT-Untersuchung sogleich die Forderung nach »drastischer Revision unserer gesellschaftlichen und politischen Wertmaßstäbe« ab.
Auch Bonns Entwicklungsminister Erhard Eppler verkündete nach Lektüre der Weltuntergangs-Warnung, daß »wir mit den jetzt sichtbar werdenden Aufgaben nicht fertig werden ohne einen grundlegenden Wandel in unseren Wertsystemen. Unser Begriff von Leistung wird sich ändern müssen«.
Gerade derartige Veränderungen im Wertsystem der Gesellschaft indes fehlen im Welt-Modell der MIT-Forscher. Die Apokalypse aus dem Computer erscheint daher vielen Kritikern als »allzu simpler« Hochrechnungstrick (so der wegen seiner ökonometrischen Forschungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnete US-Wirtschaftswissenschaftler Simon 5. Kuznets).
Um derlei Kritik zuvorzukommen. hatten die Propheten des drohenden Overkill selbst eingestanden: »Unser Modell ist unvollständig ... Das Modell sagt nicht aus, wie man diese Werte (eines globalen Gleichgewichtszustandes) erreicht.«
Tatsächlich vermochten die Zukunftsforscher denn auch die Möglichkeiten der Wissenschaft und des technischen Fortschritts in ihrem Computer-Spiel kaum genügend zu berücksichtigen. »Wir sahen keine Möglichkeit, bekennen sie, »die dynamischen Wirkungen technologischer Entwicklungen generell zu formulieren und festzulegen.«
Die Kritiker sehen darin auch einen der Hauptmängel der Computer-Visionen »Die Studie«, urteilte etwa der Londoner »Economist«, »hat die Hochwassermarke altmodischen Unsinns erreicht.« So wie heute die MIT-Wissenschaftler den Zusammenbruch der Menschheit belegen, hätte vor hundert Jahren jeder Wissenschaftler schlüssig beweisen können, daß der städtische Verkehr vom London des Jahres 1972 unmöglich, daher eine Stadt von den heutigen Ausmaßen der Briten-Metropole undenkbar sei, denn wo sollten die Londoner ihre Pferde unterbringen, wie könnten sie vermeiden, im Pferdemist zu ersticken?
In der Tat halten die Wissenschaftler in ihrem Computer-Weltmodell bestimmte Entwicklungsgrößen künstlich relativ unelastisch -- beispielsweise Nahrungsmittelproduktion und Rohstoffe -, behaupten aber zugleich, ihre Annahmen seien noch optimistisch -- ein methodischer Fehler, den schon im frühen 19. Jahrhundert der Weltuntergangsprophet Thomas R. Malthus beging.
Die verfügbaren Rohstoffquellen etwa sind jedoch eher eine Funktion des technischen Fortschritts als eine feste Größe. So war vor 30 Jahren Uran als Rohstoff für die Energieversorgung unbekannt. Was in 30 Jahren als Nahrungsmittel dienen kann, ist heute womöglich ebenso noch unergründet. Unwahrscheinlich ist auch, daß nur die Bevölkerung, Industrie und Umweltschmutz exponential wachsen sollen, nicht aber wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien, mit deren Hilfe Menschheitskrisen beherrscht werden können. Dabei ist freilich zuzugestehen, daß Wissenschaft und Leistung eine neue Richtung nehmen, die mehr auf Kontrolle als auf unreflektierte Expansion zusteuert.
Denn gerade die Angst vor künftigen Krisen könnte die Entwicklung neuer Technologien stimulieren,
die einen derart prophezeiten Menschheits-Untergang verhindern. Ebenso könnte sich die angenommene Exponentialkurve des Bevölkerungswachstums aufgrund stärkerer Geburtenkontrollen (wie bereits in einigen Entwicklungsländern mit Erfolg praktiziert) zu einer linearen Wachstumskurve verflachen.
»Die Studie«, diagnostizierte daher »The New York Times Book Review«, »ist ein hohles und irreführendes Werk« Und auch die Förderer der Arbeit im Club of Rome räumten ein, daß der von den Autoren propagierte Gleichgewichtszustand zum Heil der Menschheit »nur erreicht werden kann, wenn sich die Verhältnisse in den Entwicklungsländern grundsätzlich verbessern, absolut und relativ gesehen zu den hochentwickelten Industrienationen«.
Dazu freilich bedarf es wirtschaftlichen Wachstums, nicht allgemeiner Stagnation zur Rettung der Art.
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* »Die Grenzen des Wachstums Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 180 Seiten: 16,80 Mark
* Inderinnen bei einer Aufklärungskampagne für Geburtenkontrolle.