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Artikel 53 / 80

»WEN HASSEN SIE, WEN WOLLEN SIE VERNICHTEN?«

aus DER SPIEGEL 17/1966

Wegen »Verhöhnung des Sowjetsystems« wurden die sowjet russischen Schriftsteller Andrej Siniawski und Julij Daniel, beide 40, im Februar 1966 in Moskau zu sieben und fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt (SPIEGEL 9/1966). Jahrelang hatten sie - zum Teil mit Hilfe der Tochter des früheren französischen Marine-Attachés in Moskau, Helene Pelletier - literarische Arbeiten in den Westen geschmuggelt. Unter den Pseudonymen Abram Terz (Siniawski) und Nikolai Arschak (Daniel) übten sie darin satirische Kritik am Sowjetregime und an der Sowjetgesellschaft. Im September 1965 wurden sie verhaftet. In dem Prozeß, der sechs Tage dauerte und zu dem nur ausgewählte Funktionäre zugelassen waren, legten die beiden Angeklagten kein Schuldbekenntnis ab und verteidigten sich mit einer in sowjetischen Gerichtssälen unbekannten Schärfe. Der SPIEGEL veröffentlicht Auszüge aus einem heimlich angefertigten Prozeß-Stenogramm.

RICHTER: Angeklagter Sinjawski, bekennen Sie sich schuldig im Sinne der Anklage? Im ganzen oder teilweise?

SINJAWSKI: Nein, weder im ganzen noch im einzelnen.

RICHTER: Angeklagter Daniel, bekennen Sie sich schuldig im Sinne der Anklage? Im ganzen oder teilweise?

DANIEL: Ich bekenne mich nicht schuldig. Weder im ganzen noch im einzelnen.

RICHTER: Wir gehen zum Verhör des Angeklagten Daniel über.

STAATSANWALT: Worin bestand Ihre literarische Tätigkeit in der Sowjet-Union?

DANIEL: Ich war als Übersetzer tätig, ich schrieb Aufsätze, beim »Detgis"* ist meine Erzählung »Flucht« zwar gedruckt, aber nicht für den Verkauf zugelassen worden.

RICHTER: Ihre Erzählung liegt in der Akte (zeigt das Buch).

STAATSANWALT: Es steht somit fest, daß Sie als Dichter, Übersetzer und Schriftsteller in der UdSSR unter Ihrem eigenen Familiennamen auftreten?

DANIEL: Ja.

STAATSANWALT: Welche Werke - und wann - haben Sie unter Pseudonym geschrieben?

DANIEL: Ich habe keine Werke unter Pseudonym geschrieben, ich habe sie nur unter Pseudonym erscheinen lassen.

STAATSANWALT: Gut. Was haben Sie unter Pseudonym erscheinen lassen?

DANIEL: Unter Pseudonym habe ich die Werke »Die Hände«, »Hier spricht Moskau«, »Der Mann aus Minap« und »Sühne« erscheinen lassen.

STAATSANWALT: Haben Sie diese Werke allein geschrieben oder hat Ihnen jemand dabei geholfen?

DANIEL: Ich schrieb sie allein.

STAATSANWALT: Daniel, erzählen Sie uns, wie Ihre Bekannten das, was Sie ihnen vorgelesen haben, von politischem Standpunkt her beurteilt haben.

DANIEL: Nur Garbusenko sagte, er würde diese Sachen nicht im Ausland veröffentlichen, weil sie falsch ausgelegt und mißbraucht werden könnten. Die anderen sprachen nur über die künstlerischen Aspekte.

STAATSANWALT: Wie haben Sie auf diese Vorhaltung reagiert?

DANIEL: Ich habe seinen Worten keine Bedeutung beigemessen. Mich interessierte nur die Beurteilung der künstlerischen Seite.

STAATSANWALT: Warum haben Sie seinen Worten keine Bedeutung beigemessen?

DANIEL: Weil ich nicht eingesehen habe, daß es in meinen Werken antisowjetische Ausfälle geben soll.

STAATSANWALT: Wenn Sie in Ihren Werken nichts Antisowjetisches finden konnten, warum haben Sie sie nicht sowjetischen Verlagen angeboten?

DANIEL: Weil ich sehr wohl wußte, daß niemand solche heiklen Themen publizieren würde.

STAATSANWALT: Das bedeutet, Daniel, Sie hatten erkannt, daß es in-Ihren Werken etwas gibt, das ihrer Herausgabe in der Sowjet-Union entgegenstand.

DANIEL (gereizt): Ich kannte die Praktiken unserer Verlage, die vor jedem Werk zurückschrecken, das ein heikles Thema anrührt.

STAATSANWALT: Die Erzählung »Flucht« haben Sie aber doch einem unserer Verlage übergeben. Daniel, haben Sie Ihre Werke legal oder illegal ins Ausland verbracht?

DANIEL: Ich habe sie illegal versandt.

STAATSANWALT: Daniel, was halten Sie davon, ist es ethisch vertretbar, daß ein Sowjetbürger Werke, die - wie Sie selbst sagen - eine politische Schattierung haben, durch eine Ausländerin ins Ausland verbringen läßt?

DANIEL: Nein, das würde ich nicht ethisch nennen.

STAATSANWALT: Sagen Sie, wer ist denn diese Samoiskaja (Helene Pelletier), die Ihnen geholfen hat?

DANIEL: Sie ist Spezialistin für russische Literatur, sie liebt Rußland und ist (lächelnd) überhaupt eine liebenswürdige Frau (Gelächter im Saal).

STAATSANWALT: Das bedeutet, daß Sie Ihre Werke mit Hilfe der Tochter eines ausländischen Marine-Attachés befördert haben?

DANIEL: Ich habe sie durch die Samoiskaja versandt, wessen Tochter sie ist, hat mich dabei nicht interessiert

STAATSANWALT: In welcher Weise hat Ihnen Sinjawski geholfen?

DANIEL: Bei der Versendung überhaupt nicht!

STAATSANWALT: Verkleinern Sie nicht die Rolle von Sinjawski? In der Voruntersuchung haben Sie ausgesagt, was Sie wußten. Ich lese Ihnen vor, was Sie ausgesagt haben: »Ich habe vorher Sinjawski nicht in die Sache verwickeln wollen und habe unrichtige Aussagen gemacht. Ich habe aber nun beschlossen, die ganze Wahrheit zu sagen. Ich habe die Manuskripte Sinjawski übergeben, wie er sie aber versandt hat, das weiß ich nicht.« Daniel, warum rücken Sie von diesen Aussagen ab?

DANIEL: Ich rücke nicht von diesen Aussagen ab, sondern ich widerrufe sie überhaupt.

STAATSANWALT: Daniel, wann haben Sie gelogen, in der Aussage oder jetzt?

RICHTER (zum Staatsanwalt): Ich bitte, solche Worte zu vermeiden.

STAATSANWALT: Während der Untersuchung haben Sie Ihre Aussagen freiwillig gemacht?

DANIEL: Ja. Meine Aussagen waren verworren, in der Akte befinden sich mehrere meiner Aussagen, abgegeben zu verschiedenen Zeitpunkten. Ich bin keine Maschine, sondern ein Mensch, ich kann mich nicht an alles so genau erinnern, um so mehr, als sich all das doch vor fünf Jahren ereignet hat.

STAATSANWALT: Während der Untersuchung haben Sie zunächst bestritten, Arschak zu sein, dann waren Sie bemüht, die Abfassung Ihrer Werke zeitlich so weit wie möglich zurückzuverlegen. Haben Sie sich um das Schicksal der abgesandten Werke gekümmert? Haben Sie die gedruckten Ausgaben gesehen?

DANIEL: Ja, mir war bekannt, daß drei Werke veröffentlicht wurden. Die Pelletier hat sie mir gebracht.

STAATSANWALT: Sie haben gewußt, in welchen Verlagen und mit welchen Vorworten sie erscheinen würden?

DANIEL: Nein, das habe ich nicht gewußt.

STAATSANWALT: Haben Sie für diese Werke ein Honorar bekommen?

DANIEL: Nein.

STAATSANWALT: Welches Honorar hat man Ihnen zugesichert und wie?

DANIEL: Ich habe davon keine Vorstellung. Ich weiß nur, daß es ein Honorar gibt.

STAATSANWALT: Und nun, Daniel, erklären Sie uns die ideelle Ausrichtung Ihrer Erzählung »Hier spricht Moskau«.

DANIEL: In den Jahren 1960 bis 1961, als die Erzählung geschrieben wurde, war ich - und nicht nur ich, sondern jedermann, der sich über die Lage in unserem Land ernsthafte Gedanken machte - davon überzeugt, daß sich unser Staat an der Schwelle eines neuen Personenkults befände. Seit dem Tod Stalins war noch nicht so viel Zeit vergangen. Wir alle hatten all das noch zu gut in Erinnerung, was man als »Verletzung der Gesetzlichkeit« bezeichnete. Ich sah alle Symptome: Wieder weiß ein Mann (Chruschtschow; Red.) alles, wieder der Weihrauch, wieder zwingt eine Person ihren Willen Agronomen, Künstlern, Diplomaten und Schriftstellern auf. Und wir lasen es aus den Seiten der Zeitungen heraus, es prangte auf allen Anschlägen immer nur ein Name. Selbst die banalsten, ungehobelten Auslassungen dieses Menschen wurden uns als die Quintessenz aller Weisheit serviert.

RICHTER: Und da, als Sie die Wiederkehr des Personenkultes befürchteten, beschlossen Sie, sich an einen Verlag in Washington zu wenden?

DANIEL: Ich habe Ihnen jetzt erklärt, warum ich das Buch geschrieben, nicht, warum ich es versandt habe.

RICHTER: Fahren Sie fort.

DANIEL: Aber die Erinnerungen an die Schreckenszeiten des Terrors und an die Verletzungen der Gesetzlichkeit unter Stalin waren in mir noch zu wach, und so gelangte ich zur Annahme - ich bin von Natur aus Pessimist -, daß eine Wiederholung all dieses Schreckens möglich sei. Diese Gedanken hatten ihre. Wurzel in Ereignissen, die um Vielfaches furchtbarer gewesen sind als das, was ich beschreibe, die Massenvergeltung, die Verbannung und Vernichtung ganzer Völker. Das von mir Geschilderte ist im Vergleich dazu nur ein Kinderspiel. Hier kurz die Leitidee meiner Erzählung: Der Mensch ist verpflichtet, Mensch zu bleiben, auch unter Druck. Er ist verpflichtet, sich selbst treu zu bleiben und an keiner Aktion teilzunehmen, gegen die sich sein Gewissen auflehnt, die seiner Menschlichkeit widerspricht. In der Anklageschrift wird ein Passus als ein Aufruf zur Tötung von Partei- und Regierungsführern hingestellt. Der Held spricht tatsächlich

von Führern der Werktätigen, er hat jedoch dabei die im Sinne, an die er sich im Zusammenhang mit dem Massenterror der Vergangenheit erinnert, und kommt zur Schlußfolgerung, daß alle die, die sich schuldig gemacht haben, ihre Verantwortung tragen müßten. An dieser Stelle ist das Zitat unterbrochen, die Anklageschrift hat hier den Punkt gesetzt. Das Buch endet aber nicht hier, auch der Monolog des Helden endet nicht hier. Der Held grübelt weiter, er kennt den Anblick des Todes und des Blutvergießens, er hat sie ir Krieg kennengelernt. Der Held spricht dann offen aus: »Ich will niemanden töten.«

RICHTER: Ihr Held will niemanden töten, außer den Regierenden?

DANIEL: Das ergibt sich aus der Erzählung nicht. Der Held sagt »niemanden«. Und niemand bedeutet niemand.

STAATSANWALT: Ich bitte Daniel, daß er uns die Einleitung zum vierten Kapitel der Erzählung vorliest.

RICHTER: Ich sehe keine Veranlassung, einen unzensierten Text im Saal zur Verlesung zu bringen.

STAATSANWALT: Ich ersuche dennoch um einen Beschluß zur Verlesung, freilich mit Kürzungen.

RICHTER: Verlesen Sie es, aber gekürzt.

STAATSANWALT (liest): »Ich hasse sie krampfhaft, der Schrei bleibt mir im Halse stecken, ich zittere; könnte ich sie alle einmal zusammenrotten und ... sie vernichten.« Daniel, wie erklären Sie uns diesen Satz? Wen hassen Sie? Wen wollen Sie vernichten?

DANIEL: An wen wenden Sie sich, an mich oder an den Helden der Erzählung?

STAATSANWALT: Wer ist denn bei Ihnen der Held? Wer bringt in der Erzählung Ihre Gedanken zum Ausdruck?

DANIEL: Der Held ist stellenweise wohl der Träger der Weltanschauung und der Empfindungen des Autors, an anderen Stellen aber wieder nicht. Kein Held ist immer der Autor. Es mag sein, daß dies schlechte Literatur ist, aber es ist Literatur, und in ihr gibt es nicht nur Schwarz und Weiß.

STAATSANWALT: Ich verlese die Stellungnahme des »Glawlit"** zur Erzählung Arschaks: »Die Erzählung 'Hier spricht Moskau' ist eine verabscheuenswürdige Schmähschrift.« Sind Sie mit dieser Beurteilung einverstanden, Daniel?

DANIEL: Keineswegs. In der Stellungnahme wird behauptet, ich spreche durch »den Mund des Helden«. Das ist, gelinde gesagt, eine sehr naive Beschuldigung. So könnte man antisowjetische Beschuldigungen gegen jedes beliebige Werk jedes beliebigen sowjetischen Schriftstellers erheben. Ich weise nur auf die Weißgardisten hin, die in den Werken von Lawrenew, Scholochow, Leonow auftreten ...

STAATSANWALT (unterbricht): Offensichtlich ist Ihnen die Beurteilung der westlichen Presse, die Sie mit Dostojewski verglichen hat, zu Kopf gestiegen, so daß Sie sich mit den größten sowjetischen Schriftstellern vergleichen!

DANIEL: Ich habe mich mit niemandem verglichen. Ich will nur sagen, daß nicht das, was der Held spricht, ausschlaggebend ist, ausschlaggebend ist vielmehr die Einstellung des Autors, sein Standpunkt dem Helden gegenüber.

STAATSANWALT: Zeigen Sie mir einen Sowjetmenschen in Ihrer Erzählung, der wie ein rechtschaffener Sowjetmensch aussieht. Und wie haben Sie die Intellektuellen dargestellt?

DANIEL: Sie sprechen von den sowjetischen Intellektuellen so, als ob sie alle verdienten, daß man sich vor ihnen verbeugt.

STAATSANWALT: Nun, lassen Sie überhaupt irgend jemanden in einem guten Licht erscheinen?

DANIEL: Gibt es denn in der Satzung des Schriftstellerverbandes irgendeinen Paragraphen, der besagt, daß man verpflichtet ist, nur von rechtschaffenen, klugen, guten Menschen zu schreiben? In einem satirischen Werk sollte man von guten Menschen schreiben? Die Satiriker von Aristophanes bis Gogol ...

STAATSANWALT: Sie haben sich wohl ein bißchen übernommen!

DANIEL: Ich bitte, eine Erklärung abgeben zu dürfen. Ich bin Literat. Ich kann weder auf Hinweise auf die Literaturgeschichte noch auf die Erfahrungen anderer Schriftsteller verzichten. Das bedeutet jedoch nicht, daß ich mich ihnen gleichstelle. Ich vergleiche mich mit niemandem. Lassen Sie bitte nicht zu, daß der Ankläger behauptet, ich hätte mich mit jemandem verglichen.

STAATSANWALT: Sie erwähnen in der Erzählung die Zeitungen »Iswestija« und »Literatura i schisn«, die Schriftsteller Besymenski und Michalkow! Sie haben damit die ganze sowjetische Presse, alle sowjetischen Schriftsteller verleumdet. Ist das keine Verleumdung?

DANIEL: Nein, das ist keine Verleumdung. Ich hatte bestimmte Autoren - Konjunkturritter - im Sinn. Es ist eine Parodie auf den bombastischen Stil, auf die Schablonen, die so oft in unserer Zeitung zu finden sind.

STAATSANWALT: Ich habe diesen Einwand erwartet. Und nun zu dem Zitat über die »Iswestija«. Darin wird gesagt, diese Zeitung hätte - wie üblich - einen Leitartikel gebracht, in dem dazu aufgerufen wird, den »Tag der offenen Morde« zu unterstützen. Wie üblich! Ist denn das keine Verleumdung des sowjetischen Pressewesens?

DANIEL: Das ist eine Verspottung des Stils der Zeitungsartikel.

STAATSANWALT: Und das haben Sie uns jetzt mit Ihrer authentischen Stimme gesagt!

RICHTER: Bitte, keine Bemerkungen, die nicht zur Klärung der Sache beitragen.

DANIEL: Aber ich spreche ja immer mit meiner authentischen Stimme!

STAATSANWALT: Sie schreiben, daß das Volk antisemitisch gesinnt sei und daß es sogar so weit gehen würde, Judenpogrome zu begrüßen. Sie vergleichen diese Stimmung mit der, die zu Babij Jar geführt hat**. Aber dort haben die Faschisten gemordet! Ist das nicht eine unglaubliche Lästerung, unser ganzes Volk den Faschisten gleichzusetzen?

DANIEL: Aus diesem Zitat ergibt sich nicht, daß das ganze sowjetische Volk antisemitisch sei, sondern daß es einzelne mit solcher Gesinnung gibt. Es ist die Rede von irgendwelchen Leuten, die eine bestimmte Situation zur Erledigung persönlicher Abrechnungen ausnützen könnten. Das und nichts anderes ist aus diesem Text zu lesen.

STAATSANWALT (zitiert die Rezension des weißrussischen Emigranten Filippow, in der die Erzählung Arschaks als antisowjetisches Werk bezeichnet wird): Was sagen Sie dazu?

DANIEL: Ich rate Ihnen, sich an Filippow direkt zu wenden. Ich bin nicht verantwortlich dafür, was er schreibt.

STAATSANWALT: Sie haben aber gewußt, daß antisowjetische Kreise Ihre Werke über Radiostationen sendeten!

DANIEL: Dafür haben Sie keine Beweise.

STAATSANWALT: In der Voruntersuchung haben Sie sich dazu bekannt, daß die Idee der Erzählung »Hier spricht Moskau« darin besteht, das Volk der Sowjet-Union sei eingeschüchtert und deshalb nicht in der Lage, sich irgendeinem sinnlosen Befehl zu widersetzen. Bestätigen Sie diese Aussage?

DANIEL: Ich habe Ihnen doch bereits mehrmals gesagt, daß dieser Erzählung der Gedanke an die Möglichkeit eines Wiederauflebens des Personenkults zugrunde liegt.

STAATSANWALT (liest das Gespräch zwischen Karzew und Swetlana, in dem es heißt: »Das ganze Volk ist eingeschüchtert"): Was soll denn diese Zeile. Bestätigt sie nicht, daß Sie das ganze sowjetische Volk verleumdet haben?

DANIEL: Ich wiederhole, die Geschichte geht von der Möglichkeit einer Wiederholung des Personenkults aus, sie ist im Jahre 1961 entstanden, als eine ernsthafte Gefahr einer Restauration bestanden hat.

STAATSANWALT: Sinjawski, Sie verleumden wieder!

DANIEL (mit leichter Verbeugung): Mein Name ist Daniel.

RICHTER: Werturteile sind unnötig. Das Verhör hat das Ziel, Tatsachen festzustellen, die Wertung erfolgt durch das Gericht.

STAATSANWALT: Bei der Vernehmung am 13. Januar haben Sie zugegeben, daß es in dieser Erzählung Stellen gibt, die als antisowjetisch ausgelegt werden könnten. Bestätigen Sie diese Aussage?

DANIEL: Ja, ich erhalte sie aufrecht.

STAATSANWALT: Daniel, was hat Sie dazu veranlaßt, antisowjetische, verleumderische Werke, die das System der UdSSR in Verruf bringen, zu verfassen?

DANIEL: Ich lehne es ab, auf eine in solcher Form gestellte Frage zu antworten.

STAATSANWALT: Was hat Sie dazu veranlaßt, diese Werke zu verfassen?

DANIEL: Seinerzeit wurde auch »Der stille Don« von Scholochow als antisowjetisch verurteilt ... (Geräusche und Gelächter im Saal).

RICHTER: Wir halten hier keinen literarischen Disput, Exkurse in die Literaturgeschichte sind überflüssig.

DANIEL: Ich bestehe auf meinem Recht, literarische Analogien anzustellen. Ich bin hier wegen einer politischen Straftat angeklagt und wehre mich durch Heranziehung von Analogien.

RICHTER: Ihre Erzählung »Die Hände« handelt von einer fernen Vergangenheit. Warum haben Sie gerade diese Erzählung ins Ausland verschickt und nicht etwa, sagen wir, die »Flucht«?

DANIEL: Ich wollte meine Werke auch gedruckt sehen. Ich wußte aber, was unsere Verlage als heikle Themen meiden. Es gibt eine Reihe von Problemen, über die kein Schriftsteller schreibt, die kein Verlag druckt. Der Gegenstand der Erzählung »Die Hände« ist ein Tabu, weil darin von einer blutigen, schweren aber notwendigen Arbeit die Rede ist. Der Held der Erzählung ist Werktätiger, der später bei der »WTschK"* diente. Und, im Grunde genommen, zittern ihm bei dieser Arbeit die Hände (erzählt die Geschichte).

RICHTER: Aber warum haben Sie gerade diese Geschichte ins Ausland geschickt?

DANIEL: Weil ich sicher damit rechnen mußte, daß sie hier nicht gedruckt wird, weil es sich um ein verbotenes Thema handelt, das seit den dreißiger Jahren in unserer Literatur nicht mehr behandelt wird ...

RICHTER: Aber warum haben Sie nicht die »Flucht« ins Ausland geschickt, warum gerade diese Erzählung ...

DANIEL: Ich habe sie geschickt, weil ich sie gedruckt wissen wollte, das Ist für mich doch ein ausreichender Grund. Wäre ich Arzt oder Ingenieur, so hätte ich sie unter meinem Namen veröffentlicht. Ich bin aber Übersetzer. Die Arbeit eines Übersetzers hängt aber von guten Beziehungen zu den Verlagen ab. Wäre bekannt geworden, daß man mich im Ausland verlegt, so hätte man mir die Übersetzungsarbeiten weggenommen. Als ich der Pelletier meine Werke übergab, wußte ich nicht, wann und in welchem Lande sie veröffentlicht werden.

STAATSANWALT: Sie wollten sich also gedruckt sehen. Sie dachten aber dabei nicht an unsere Feinde, Sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht, daß diese Werke zur antisowjetischen Propaganda ausgenutzt werden können?

DANIEL: Daran habe ich damals nicht gedacht.

STAATSANWALT: Und wann haben Sie dann doch darüber nachgedacht?

DANIEL: Ich begann später, im Jahre 1963, darüber nachzudenken, als ich zwei Bücher gesehen habe, eines davon mit der Einleitung von Filippow. Ich habe damals erkannt, wie die das ausgelegt haben. Ich schob jedoch damals meine Bedenken beiseite und schickte ein weiteres Manuskript ins Ausland. Aber nach 1963 habe ich überhaupt nichts mehr geschrieben und verschickt.

STAATSANWALT: Sie haben Schriften verfaßt, die sich nach Ihrem eigenen Eingeständnis zu antisowjetischer Auslegung eignen. Sie haben gewußt, wie man Ihre Werke im Westen beurteilt. Beurteilen Sie selbst Ihr Verhalten!

DANIEL: Ich habe es gesagt und sage es wieder, daß ich keine antisowjetischen Werke geschrieben habe, ebenso habe ich die Grundlagen unseres Landes weder kritisiert noch in Verruf gebracht. Die Beurteilung der Veröffentlichung meiner Werke ist aber eine andere Sache. Ich bedaure hier die Veröffentlichung.

RICHTER: Wünschen Sie vor Gericht noch irgendwelche Erklärungen abzugeben?

DANIEL: Ja. Die Anklage stellt durchweg den Autor mit seinem Helden gleich. Das ist aber schon deshalb unzulässig, weil der Held, gelinde gesagt, nicht ganz bei Sinnen ist. In der Erzählung »Sühne« zum Beispiel verliert der Held den Verstand und schreit auf: »Der Kerker ist in uns selbst.«

RICHTER (unterbricht): Bei Ihnen verliert er den Verstand erst auf der nächsten Seite.

DANIEL: Nein! Auf der nächsten Seite befindet er sich bereits im Irrenhaus. Ferner werden die Stellen ohne Rücksicht auf die Verfassung des Helden verwendet. Einer hat den Verstand verloren, der andere ist Alkoholiker.

RICHTER (unterbricht): Bei Ihnen trinken ja alle Intellektuellen.

DANIEL: Ich bitte darum, zum ersten die Zitate nicht aus dem Zusammenhang zu reißen und zum anderen die Verfassung der Helden zu berücksichtigen. Und sind die Farben irgendwo zu dick aufgetragen, so bitte ich das nicht meiner antisowjetischen Einstellung, sondern meiner schlechten Federführung zuzuschreiben (Gelächter im Saal).

RICHTER: Und nun gehen wir zum Verhör Sinjawskis über.

STAATSANWALT: Welche Schulen haben Sie abgeschlossen, welche Grade besitzen Sie?

SINJAWSKI: Ich habe die Moskauer Staatsuniversität abgeschlossen, bin Kandidat der Sprachwissenschaften*.

STAATSANWALT: Wo haben Sie nachher gearbeitet?

SINJAWSKI: Ich habe beim Institut für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gearbeitet.

STAATSANWALT: Haben Sie Ihre Werke unter Pseudonym erscheinen lassen?

SINJAWSKI: Ja, ich ließ meine Werke im Ausland unter dem Pseudonym Abram Terz erscheinen.

STAATSANWALT: Was haben Sie im einzelnen unter diesem Pseudonym veröffentlicht?

SINJAWSKI: Ich habe »Der Prozeß beginnt«, »Über den sozialistischen Realismus«, die Sammlung »Phantastische Erzählungen«, »Unerwartete Gedanken« und »Ljubimow« publiziert.

STAATSANWALT: Sie haben Ihre Manuskripte illegal verschickt?

SINJAWSKI: Ich habe sie inoffiziell, aber nicht illegal verschickt.

STAATSANWALT: Und Sie wußten, wie Ihre Werke im Ausland beurteilt wurden?

SINJAWSKI: Nein.

STAATSANWALT: Kennen Sie Daniels Werke?

SINJAWSKI: Er hat sie mir alle laut vorgelesen.

STAATSANWALT: Las er aus dem Manuskript oder aus einem Buch?

SINJAWSKI: Ich blicke nicht über die Schulter, wenn man mir etwas vorliest.

11. Februar 1966, 10 Uhr

RICHTER: Das Verhör von Sinjawski wird fortgesetzt.

STAATSANWALT: Sind in den drei Werken, die Ihnen zur Last gelegt werden, Ihre politischen Ansichten und Überzeugungen dargelegt?

SINJAWSKI: Den Kommunismus betrachte ich als das einzige Ziel, welches, sich der moderne, denkende Mensch setzen kann, und ich sage, daß der Westen zu schwach ist, sich ein ähnliches Ziel zu setzen. Ich spreche über unsere Schwierigkeiten und Widersprüche in den letzten Jahren unter Stalin, rede davon, wie Grausamkeiten begangen und unmenschliche Methoden angewandt wurden. Aber auch die Stalin-Ära ist für mich eine geschichtlich gesetzmäßige Periöde, ich streiche sie nicht aus der Geschichte. Die Vorwürfe der westlichen Welt wegen der Grausamkeiten lehne ich ab - diese Grausamkeiten sind mit der Aktion gegen den Müßiggang verbunden:

RICHTER: Das heißt also, daß Sie in diesem Artikel die kommunistische Gesellschaftsordnung begrüßen?

SINJAWSKI: Bei mir steht geschrieben, daß der Kommunismus das größte Ziel ist. Die tatsächlichen Wege entsprechen aber nicht immer dem Ziel, sie sind ähnlich, aber nicht immer identisch.

STAATSANWALT: Auf Seite 45 des Artikels vergleichen Sie Lenin mit Stalin und sprechen über den Kommunismus wie über ein religiöses System! Wozu wird hier Lenin herangezogen? Warum dieser Vergleich mit Stalin?

SINJAWSKI: Der Zusammenhang zum Artikel besteht darin, daß die Literatur auf einem bestimmten Boden gedeiht. Die Literatur der Stalin-Ära basiert auf einer religiös-mystischen Denkart.

STAATSANWALT: Halten Sie bitte keine literarischen Vorlesungen. Ich frage direkt und konkret: Warum haben Sie Lenin so häßlich dargestellt?

SINJAWSKI: Ich habe darüber gesprochen, daß man um Lenin keinen Kult aufbauen konnte. Lenin ist für mich ein Mensch, dabei gibt es nichts Negatives.

STAATSANWALT: Nehmen wir Ihre Schrift »Der Prozeß beginnt«.

SINJAWSKI: Die Äußerungen, die man mir vorwirft, macht die negativste Gestalt der Erzählung, Karlinski. Er ist ein Zyniker. Er sagt, Sozialismus sei freie Sklavenwirtschaft. Ich habe in der Erzählung gezeigt, daß Karlinski amoralisch und ein unbedeutender Mensch ist. Sie haben den Protagonisten mit dem Autor verwechselt. Wenn wir solch einen Weg einschlagen, dann verwechseln wir Gorki mit (seinem Romanhelden) Klim Samgin und Saltykow -Schtschedrin mit Iuduschka Golowlew.

RICHTER: Sie haben das russische Volk als Trunkenbold dargestellt.

SINJAWSKI: Darauf kann ich ausführlich antworten ...

RICHTER: Was Sie da schreiben, ist das etwa Lyrik? Wann haben Sie diese Schmähschrift abgesandt? Das ist doch Ihr Volk, das russische Volk, das Opfer gebracht, das in dem furchtbaren Krieg gelitten. Stahl für den Sieg geschmolzen und 20 Millionen verloren, aber dennoch ausgehalten und eine großartige Kultur geschaffen hat. Das sind »Diebe und Trinker«? Vergessen Sie nicht, Sie stehen vor einem Gericht der Russischen Föderation!

SINJAWSKI: Niemand kann mir eine besondere Vorliebe für den Westen vorwerfen und Abneigung gegen das russische Volk - ich war sogar als Slawophile bekannt. Ich bin aber nicht der Meinung, man müßte das russische Volk auf Schritt und Tritt loben, trotzdem halte ich es für das größte Volk auf der Erde.

RICHTER: Mußten Sie so etwas in den Westen schicken?

SINJAWSKI: Ich glaube. Mängel sind keine Ergänzung zu guten Eigenschaften

- sie sind eng miteinander verbunden.

Die Trunksucht - das ist die andere Seite des geistigen Lebens. In einem kleinen Absatz ist davon die Rede. Auch in diesen Erscheinungen, im Diebstahl und der Trunksucht, äußert sich nicht nur eine schlechte Seite, sondern auch die beste Seite des russischen Charakters. Als ob man im Westen vorher geglaubt hätte, wir seien Abstinenzler. Außerdem glaube ich, die Russen halten nichts vom Angeben. Sie sind eher für Understatement als für Hochstapelei. Meine Worte, sie seien »nicht fähig, eine eigene Kultur zu schaffen«, meinten die Eigenart des russischen Menschen, immer zu untertreiben. Aber aus meinem Gesamtwerk ist das Gegenteil ersichtlich, mein Glaube an die Fähigkeiten ...

RICHTER: »Lumpen, Diebe, Verdächtige in den Augen anderer Völker.« Was heißt das - ist das etwa keine Verleumdung des russischen Volkes? Ich habe die Übersetzung des englischen Textes selbst überprüft.

SINJAWSKI: (macht einen Versuch zu antworten)

RICHTER (unterbricht): Sie haben einen Artikel über Jewtuschenkos Gedicht »Bratskaja G ES« (Gemeinschaftsstauwerk) geschrieben. Darin haben Sie die Cheops-Pyramide verteidigt. Die haben Sie verteidigt, aber über Ihr eigenes Volk schickten Sie einen Artikel nach England. (Zum Staatsanwalt) Setzen Sie das Verhör fort!

STAATSANWALT: Sie schreiben in »Ljubimow« auf Seite 27 und 160, es gäbe bei uns keine Bücher, Gurken hätten sich in Wurst verwandelt, alle seien, darüber hergefallen, nur die Hunde äßen sie nicht. Und das bei uns, wo das Büchereiwesen so stark entwickelt ist! Ist das auch ein Lobgesang auf das russische Volk?

SINJAWSKI: »Ljubimow« ist mein jüngstes Werk. Ich habe dieses Krähwinkel mit liebenswürdigen Zügen versehen, die aus dem Reich des Wunderbaren und Phantastischen stammen. In der Stadt spukt es, Menschen werden verwandelt. Das ist keine wirkliche Stadt, das ist eine Stadt meiner Seele. Das ist ein lyrisches Werk und nicht ein politisches, keine politische Satire, wie manche glauben. Bei mir steht »Guten Morgen, mein Täubchen, meine Stadt Ljubimow«. Das ist ein Stück meiner Heimat, aber nur ein Stück und nicht das Symbol der Sowjet-Union.

RICHTER: Boris Filippow meint, Ljubimow und die UdSSR seien ein und dasselbe: »In Ljubimow spiegelt sich die Sowjet-Union wie in einem Wassertropfen wider.« So interpretiert Filippow. Sind Sie mit ihm einverstanden?

SINJAWSKI: Nein. Es gibt auch andere Urteile. Seine Auslegung ist willkürlich.

RICHTER: Die Übersetzerin schreibt, die Wörter »Lenni (Ljonja)-Lenin-leschi (Waldgeist) und den (Faulheit)« klingen ähnlich. Hatte sie Anlaß, Ihren Ljonja Tichomirow mit Lenin zu vergleichen?

SINJAWSKI: Nein. Sie urteilt willkürlich. Für sie ist beispielsweise auch mein alter Herr Proferansow gleich Marx und dergleichen mehr.

RICHTER: Hatte sie Anlaß zu behaupten, daß Sie eine negative Einstellung zu Lenin haben, daß Sie seinen heiligen Namen verletzen?

SINJAWSKI: Darüber möchte ich noch sprechen ...

RICHTER: Hatte sie Anlaß, das zu sagen oder nicht?

SINJAWSKI: Nein. Ich habe keine negative Einstellung zu Lenin.

RICHTER: Hören Sie mal (er zitiert): »Ljubimow ist der Ort, wo Lenin den Mond anbellt.« Was soll das? Ist das Sympathie zu Ljubimow? Zu Lenin? Bleiben Sie noch etwas bei dieser Episode.

SINJAWSKI: Ich bedaure, daß ich Lenin erwähnt habe - das ist eine Taktlosigkeit. Das ganze Kapitel heißt »Das irdische Leben und das Leben nach dem Tode des Samson Samsonowitsch Proferansow«. Das ganze Kapitel ist ein Abrakadabra, das auf dummem Zeug aufgebaut ist. Alles klingt unverständlich: »Proferansow war Astrologe, Diogenes und Philanthrop«, Nikolaus I. wird mit Nikolaus II. verwechselt - alles ist barer Unfug. Ich habe Lenin nicht beleidigen wollen, aber es tut mir leid, daß ich ihn in das Abrakadabra hineingenommen habe, zusammen mit einem Dutzend anderer Namen, wie Puschkin, Jessenin, Leo Tolstoi ...

RICHTER: Es kommt bei Ihnen eine Besprechung im Bezirkskomitee der Partei vor, und der Sekretär, Genosse O., sagt: »Damit keine Folgeerscheinungen des Personenkults auftreten ...« Was ist das - eine Metapher oder eine Hyperbel? Sagt das Genosse O.?

SINJAWSKI: In der Person des Genossen O., des Sekretärs des Bezirkskomitees, kann man Anspielungen auf einige Charakterzüge Chruschtschows bemerken, ich hatte es mir aber nicht zur Aufgabe gemacht, ihn und seine Tätigkeit zu kritisieren. Ich griff nur einzelne Züge heraus - er redete sich leicht in Eifer und gebrauchte grobe Ausdrücke.

STAATSANWALT: Kehren wir zu Ihrem Artikel »Über den sozialistischen Realismus« zurück. Was meinten Sie, als Sie schrieben: »Damit auf immer die Gefängnisse verschwinden, bauten wir neue Gefängnisse ... Wir entehrten nicht nur den Körper, sondern auch die Seele ...«

SINJAWSKI: In dem Artikel wird über die Schwierigkeiten und Widersprüche, über die unmenschlichen Methoden unter Stalin gesprochen. Ich rechtfertige sogar solche Methoden. Ich sage: »Was habt Ihr - Ihr humanen alten Männer und Frauen - getan?« und »wie schön läßt es sich Tee trinken«, womit ich die westlichen Liberalen meine.

STAATSANWALT: Sie schreiben: »Um das Ziel zu erreichen, bedienten wir uns der Methoden unserer Feinde ... wir führten Folterungen ein, Schulterklappen, wir setzten einen Zaren auf den verwaisten Thron ... Manchmal schien es, als fehle nur noch eins für den vollen Sieg des Kommunismus - die Absage an den Kommunismus.« Wie ist das zu verstehen?

SINJAWSKI: Es ist so zu verstehen, wie ich bereits sagte - die Stalin-Ära ist gemeint.

STAATSANWALT: Und warum vergleichen Sie den Westen mit uns, indem Sie schreiben: »Welche Freiheit kann schon ein Gläubiger von seinem Gott wollen?« Wie ist das zu verstehen?

SINJAWSKI: Die westliche Demokratie basiert auf der »Freiheit der Persönlichkeit«, der »freien Konkurrenz«. In diesem Sinne spreche ich über die sowjetischen Schriftsteller - für sie ist die Frage nach der Wahl nicht wichtig. Entweder du glaubst - oder aber, wenn nicht (ein Blick auf die Anklagebank), dann kommst du ins Gefängnis.

RICHTER: So, so. Sie sprechen von den »Anweisungen der Partei und Regierung«. Das ist nicht mehr Ironie. Das ist ganz direkt gesagt!

SINJAWSKI: Unter Stalin war es auch so, wie es bei mir steht ...

RICHTER: Was soll hier Stalin? Das war eine andere Zeit!

SINJAWSKI: Wer war denn damals die höchste Autorität in der Linguistik, in der Wirtschaft und Musik? Etwa nicht Stalin?

RICHTER: Würden die reaktionären Verlage Sie wohl in so schöner Aufmachung herausgeben, wenn das keine Sowjethetze wäre? Auf solchem Papier, in einem solchen Einband ... Bei der Ausgabe »Der Prozeß beginnt« sind zwei Drittel des Einbandes schwarz, und nur ein Drittel ist rot. Bedeutet das nicht, daß in der Sowjet-Union die Schattenseiten überwiegen?

SINJAWSKI: Ich habe den Einband nicht in Auftrag gegeben. Es gibt auch andere Urteile: »Terz ist nicht Antikommunist«, »Die Leser Amerikas würden sich irren, wenn sie meinen, Terz sei ein Feind der kommunistischen Gesellschaftsordnung« - das schreibt Czeslaw Milosz*.

RICHTER: Tarsis** hat man im Westen zu einem neuen Dostojewski erklärt. Bald wird man Sie mit Shakespeare vergleichen.

SINJAWSKI: Herr Vorsitzender, hier geht es nicht um Dostojewski, sondern um Politik. Deshalb zitierte ich aus dem Artikel »Über den sozialistischen Realismus": »Käme die Monarchie oder die westliche Demokratie zurück, was ein und dasselbe ist, so würden wir wieder mit der Revolution beginnen.«

RICHTER (nach einer kleinen Pause zum Staatsanwalt): Setzen Sie das Verhör fort.

STAATSANWALT: Wann haben Sie das während der Haussuchung bei Ihnen beschlagnahmte Manuskript. »Ein Rechenschaftsbericht« geschrieben?

RICHTER: Dieses Manuskript wird Sinjawski nicht zur Last gelegt. Es charakterisiert seine Persönlichkeit und weiter nichts. Ich erkläre, daß Manuskripte und Tagebücher, die nicht verbreitet wurden, nicht als Belastungsmaterial dienen können.

STAATSANWALT: Warum haben Sie nicht versucht, Ihre Werke in der UdSSR zu veröffentlichen?

SINJAWSKI: Als Literaturkritiker kenne ich ziemlich gut den Geschmack und die in unserer Literatur verbreiteten Normen. In vielen wichtigen Punkten stimmten sie nicht mit meinem Geschmack überein. Die Eigenarten meines literarischen Schaffens unterscheiden sich stark von dem, was bei uns üblich ist und durchgelassen wird. Der Unterschied liegt nicht in der Politik, sondern in dem künstlerischen Empfinden. Auch die sechs Werke, die nicht In der Anklage enthalter sind, können bei uns nicht gedruckt werden, zumindest jetzt nicht. Ich kenne unser Verlagswesen sehr gut, und daher habe ich meine Werke unseren Verlagen nie angeboten.

STAATSANWALT: Von unserem Verlagswesen rede ich hier nicht.

SINJAWSKI: Ich dachte, das Gericht interessiere sich ...

STAATSANWALT: Warum bewahrten Sie die Manuskripte nicht bei sich auf?

SINJAWSKI: Die Anklageschrift betrachtet das ebenso als Beweis meiner Schuld wie das Pseudonym. Man sagt, ich hätte den antisowjetischen Charakter meiner Werke begriffen und daher das Pseudonym gewählt. Ein Pseudonym ist aber kein illegaler Deckname. Es steht jedem Autor frei, wenn er will, ein Pseudonym zu führen. Ich habe das Pseudonym aus Vorsicht geführt und aus Vorsicht auch die Manuskripte nicht bei mir aufbewahrt. Ich hielt es für möglich, daß meine Werke Repressalien ausgesetzt sein könnten, obgleich ich diese Form nicht im voraus ahnen konnte. Unvergessen waren die. Maßnahmen von 1956 gegen Soschtschenko, Achmatowa und andere. Vielleicht war ich ängstlicher als irgendein anderer, aber 1951 hatte man meinen Vater verhaftet und meine Tagebücher beschlagnahmt. Das war der psychologische Grund für die Vorsicht. Ich versteckte auch das, was man mir nicht zur Last legt.

STAATSANWALT: Sinjawski! Sagen Sie dem Gericht, wann Ihnen klarwurde, daß Ihre Werke von der bürgerlichen Propaganda ausgenutzt werden.

SINJAWSKI: Das war mir bis zum Schluß nicht bekannt und ist mir auch jetzt noch nicht bekannt. In der Anklageschrift steht, daß ich es »wußte, aber nicht vorbeugte«. Die Anklageschrift enthält aber eine auf einen Verdacht gestützte Vermutung. Ich setze kein Vertrauen in die Objektivität des Ermittlungsverfahrens. Denn in der Anklageschrift sind Materialien über meine Verhaftung und Stimmen über meine Werke aufgeführt, die nach meiner Verhaftung in der bürgerlichen Presse erschienen, so in »Time« vom 19. Oktober 1965 und in der »Washington Post« vom 20. November 1965. Diese Artikel werden jetzt als ein objektiver Beweis meiner antisowjetischen Tätigkeit hingestellt. Warum wurde im Ermittlungsverfahren nur Material zugunsten der Anklage ausgewählt?

RICHTER: Nur das Gericht kann entscheiden, ob Sie antisowjetische Werke geschrieben haben, die Rezensionen sind nur ein Beweis dafür, wer und wie man Ihre Werke ausnutzt ... Sie haben ein Seminar über sowjetische Lyrik geleitet. Sicherlich haben Sie dabei Majakowski und sein Poem »W. I. Lenin« erwähnt. Und bei Ihnen bellt Lenin den Mond an! Und ausgerechnet solche Werke erreichen im Westen hohe Auflagen. Als sowjetischer Literaturwissenschaftler ... begreifen Sie, was das heißt! Sehen Sie sich Daniel an, er hat im Krieg gekämpft, war verwundet, aber für Sie ist der Krieg günstig verlaufen ...

SINJAWSKI: Dafür kann ich nichts.

RICHTER: Das sage ich auch gar nicht. Das Schicksal meinte es gut mit Ihnen. Das Volk hat aber gekämpft, gelitten, Stahl gegossen, und Sie schreiben so etwas über dieses Volk. Für das Gericht ist maßgebend, daß Sie durch die Veröffentlichung Ihrer Werke im Ausland der sowjetischen Regierung und dem Volk Schaden zugefügt haben.

SINJAWSKI: Ich halte meine Werke nicht für antisowjetisch.

STAATSANWALT: Sinjawski, nehmen Sie Stellung zu Ihrem Verhalten! Wie beurteilen Sie als Wissenschaftler, der in unserem Lande groß geworden ist und an unseren Schulen studiert hat, die Tatsache, daß antisowjetische Werke ins Ausland geschickt werden?

SINJAWSKI: Ich bin mit einer solchen Beurteilung meiner Werke nicht einverstanden, daher kann ich nicht darauf antworten.

RICHTER: Wieviel Archive hatten Sie? Eins oder zwei? Eins, um die Artikel aufzubewahren, die für die Sowjet -Presse bestimmt waren, und das andere für die Manuskripte, die ans Ausland gingen?

SINJAWSKI: Das ist eine verschleierte Beleidigung, und ich werde auf die Frage nicht antworten.

RICHTER: Hier gibt es keine Beleidigung. Sie werden gefragt, wo Sie die für die Sowjet-Presse bestimmten Manuskripte und wo Sie die für das Ausland aufbewahrten.

SINJAWSKI: Ich habe keine Spezialfächer für diese und jene Manuskripte.

RICHTER: Was haben Sie von Ihren Freunden erhalten?

SINJAWSKI: Ich habe von französischen Freunden Geschenke erhalten und habe ihnen auch Geschenke gemacht. Ich finde das nicht verdächtig.

RICHTER: Bei dem Ermittlungsverfahren sagten Sie aus, Sie hätten zwei Jacken erhalten, zwei Pullover, ein Nylonhemd und noch etwas.

SINJAWSKI: So ist es. Lesen Sie das Protokoll weiter, da steht, was ich meinen Freunden geschenkt habe.

RICHTER: Mir ist wichtig, was Sie erhalten haben.

SINJAWSKI: Wollen Sie ... sagen, ich hätte dafür das Vaterland verkauft?

* Staatsverlag für Kinderliteratur.

Hauptverwaltung für Literatur und Verlagswesen.

** Das Pogrom von Babij Jar wurde auch von Jewtuschenko in einem Gedicht behandelt, das auf sowjetischen Antisemitismus anspielt.

* Allrussische Sonderkommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (1917 bis 1922), auch »Tscheka« genannt.

* Entspricht etwa dem deutschen Doktor. Der sowjetische Doktor ist dem Dr. habil. zu vergleichen.

* Exilpolnischer Schriftsteller ("Verführtes Denken").

** Der antikommunistische russische Schriftsteller Walerij Tarsis, der ebenfalls Werke im Westen veröffentlicht hatte, wurde während eines England-Besuches von den Sowjetbehörden ausgebürgert (SPIEGEL 12/1966)

Dichter Daniel, Siniawski vor Gericht: »Das Volk hat Stahl gegossen, und Sie schreiben so etwas«

Daniel-Helferin Helene Pelletier

»Wann haben Sie gelogen?«

Die Presse

Sozialistischer Realismus

Moskauer Landgericht*: »Ist das nicht eine unglaubliche Lästerung?«

Sowjet-Führer Lenin, Stalin*: »Wer war die höchste Autorität in der Musik?«

Siniawski-Publikation im Westen*

»Wie schön läßt sich Tee trinken«

Sowjetischer Dichter Jewtuschenko

»Mußten Sie so etwas ...

Exilrussischer Autor Tarsis

... in den Westen schicken?«

Trunksucht in der Sowjet-Karikatur*

»Als ob der Westen glaubt ...

Trunksucht in der Sowjet-Karikatur*

... wir seien Abstinenzler«

Bibliotheks-Lesesaal in Leningrad: »Und bei Ihnen bellt Lenin den Mond an«

Dichter Daniel, Siniawski: »Das ganze Kapitel ist ein Abrakadabra«

De Volkskrant, Amsterdam

Russisches Recht

* Während des Schriftsteller-Prozesses.

* Denkmal an der Autobahn Moskau-Minsk.

* Anthologie russischer Erzählungen mit Sinjawski (Terz)-Novelle »Der Prozeß beginnt« als Titelgeschichte (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln).

* Aus »Krokodil«, Moskau.

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